Mit der Digitalisierung gibt es offenkundig ein Problem. Denn vieles, was zeitgeistig als „digital“ beschrieben wird, wurzelt genau besehen in längerfristigen Entwicklungen, die in Zeiten zurückreichen, da Computer sich längst noch nicht flächendeckend durchgesetzt hatten oder gar erst als Prototyp oder Denkmodell existierten. Was war zuerst: die Digitalisierung oder der Wandel der Gesellschaft? Das ist das Thema von Armin Nassehis neuem Buch. Der Münchner Soziologieprofessor fragt, „für welches Problem die Digitalisierung eine gesellschaftliche Lösung ist“ (S. 14). Es gehe also um ihre gesellschaftliche Funktion. Man sollte Nassehi allein schon dafür dankbar sein, dass er diese Frage stellt, die im allgemeinen Digitalisierungstaumel meist überhaupt nicht aufgeworfen wird. Dabei wäre es für eine Gesellschaft nun schon wichtig zu wissen, was sie mit dem Digitalen anfangen möchte. Nassehis Antwort freilich geht weiter; er zielt nicht auf oberflächlichen Anwendungsnutzen, sondern auf eine „Theorie der digitalen Gesellschaft“, so der ambitionierte Untertitel des Buchs.
Nassehis Antwort auf die Frage lautet nun, „dass die Digitalisierung unmittelbar verwandt ist mit der gesellschaftlichen Struktur“ (S. 20). In seinem Buch will er zeigen, „dass die moderne Gesellschaft bereits vor dem Einsatz digitaler Computertechnologien eine digitale Struktur hatte“ (S. 21). Das ist in der Tat eine spannende These, die zugleich auch den beeindruckenden Siegeszug digitaler Technologien und Medien erklären kann: Sie verbreiten sich rasant, weil sie zur Struktur der Gesellschaft passen. Nassehi legt den Beginn der Digitalisierung auf jene historische Zeit, „in der sich Gesellschaften selbst als Gesellschaften zu beschreiben begannen“ (S. 63). Konkret: die Entstehung von Stadtplanung, Sozialplanung, wissenschaftlicher Betriebsführung und systematischer Sozialforschung.
Das bedeutet anders gesagt: „Das Bezugsproblem der Digitalisierung ist die Komplexität und vor allem die Regelmäßigkeit der Gesellschaft selbst.“ (S. 30) Während vormoderne Gesellschaften bei aller Vielfalt ihrer Ausdrucksformen doch recht einfach strukturiert waren und sich alles, so Nassehi, in ein Oben-unten-Schema fügte, wird Gesellschaft in der Moderne unübersichtlicher. Unterschiedliche Ordnungsformen existieren nebeneinander. An dieser Komplexität der Gesellschaft setzt die Digitalisierung an - indem sie in deren Unübersichtlichkeit Muster erkennt. Damit liegt, so Nassehis Schluss, „die Digitalität der Gesellschaft in ihrer eigenen Struktur und in ihrer Komplexität begründet“ (S. 321).