Kunst – so meinten nicht nur die Begründer der Salzburger Festspiele – könne mit dazu beitragen, das kollektive Trauma des Ersten Weltkriegs zu überwinden und Perspektiven für eine bessere Zukunft auszuloten. So standen denn im Sommer dieses Jahres, einer insgesamt wohl durchdachten Dramaturgie folgend, die das Erinnern und mehr noch die nachbetrachtende Aufbereitung der ersten Jahrhundertkatastrophe zum Ziel hatte, u. a. auch „Die letzten Tage der Menschheit“ auf dem Spielplan. Bösartigkeit und Dreistigkeit, Dummheit und Gier, Sensationslust und Grausamkeit – all das hat Karl Kraus, der so genau beobachtende Chronist seiner Zeit, in die alle Dimensionen theatralischer Darstellung übersteigende „Marstragödie“ eingewoben.
Die Szenen sind auch heute – man denke nur an die Präsenz des Mordens, Prahlens und hilflosen Stammelns in Anbetracht von derzeit wütendem Krieg und Terror – von gespenstischer Aktualität. Weit verfehlt allerdings wäre es, damit zugleich den Stillstand der Geschichte zu proklamieren oder die Wiederkehr des immer Gleichen zu beklagen. Wie der in Berlin lehrende Philosoph Byung-Chul Han in seinem soeben erschienenen, gleichermaßen luziden wie düsteren und doch auch inspirierenden Buch zeigt, ist das neoliberale Regime derzeit damit beschäftigt, das Ideal der (ersten) Aufklärung zu tilgen1). Ging diese noch davon aus, dass die Selbstermächtigung des Menschen zu einem Leben in Freiheit und Würde das Ziel einer von Vernunft geleiteten Entwicklung sei, so hat die von den Interessen des Kapitals diktierte „Psychopolitik“ nicht weniger im Sinn als die Versklavung des Individuums.
Nicht Terror, Gewalt oder Gefängnisse sind die hierfür aufzubietenden Mittel. Die Tücke der „smarten Macht“ liegt vielmehr in der verführerischen Fülle von „Big Data“ und in dem selbst gewählten Verzicht auf individuelle Souveränität. Wie andere vor ihm, sieht auch Han die „Vereinzelung des sich selbst ausbeutenden Leistungssubjekts“ (S.15), das sich im Fall seines Versagens auch noch selbst schuldig spricht, als Ausgangspunkt der sich abzeichnenden totalen Kontrolle und Ausbeutung.
Denn die „smarte Macht“, die wir gleichermaßen gedankenlos wie willfährig v. a. mit der Bekundung all unserer Vorlieben nahezu pausenlos auf dem Laufenden halten, „liest und wertet unsere bewussten und unbewussten Gedanken aus. Sie setzt auf freiwillige Selbstorganisation und Selbstoptimierung“ (S. 28).
Han interpretiert nicht nur die Devotionalien des digitalen Zeitalters – das Smartphone wird ihm zum Beichtstuhl, Facebook zur globalen Synagoge –, sondern verweist mit großer Plausibilität auch auf das derzeit absehbare Ziel dieser Entwicklung: „Aus Big Data lässt sich nicht nur das individuelle, sondern auch das kollektive Psychogramm, womöglich das Psychogramm des Unbewussten herstellen. Dadurch wäre es möglich, die Psyche bis ins Unbewusste auszuleuchten und auszubeuten.“ (S. 35)
Was folgt daraus? Han beschreibt – durchaus überzeugend – das Ende der gefühlten, der erzählten Zeit. An ihre Stelle treten mehr und mehr Affekte und Emotionen, das Diktat des Zählens und Vermessens. Was wäre dieser Entwicklung entgegenzusetzen? Die Einübung in die Kunst der Widerständigkeit, meint Han. Auf dem Weg in die „dritte Aufklärung, die uns darüber belehrt, dass die digitale Aufklärung in die Knechtschaft umschlägt“ (S. 80), könnten die Suche nach einem „ganz Andern“, wie sie der Idiot beherrscht, oder die Einübung der (ihrem Wesen nach) stets zweckfreien Kunst die Richtung weisen.
Walter Spielmann
Han, Byung-Chul: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2014. 123 S., € 19,99 [D], 20,60 [A], sFr 30,-. ISBN 978-3-10-002203-5