Aleida Assmann, Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2018, macht sich auf die Suche nach „Schlüsselbegriffen für eine humane Gesellschaft“. Kontext ist die aktuelle Krise der EU, welche die Autorin auch auf die Migrationsbewegungen seit 2015 zurückführt – diese haben globales Leid in die Mitte Europas gerückt und bedeuten einen „ultimativen Belastungstest“ für Europa (S. 22). Europa brauche einen neuen Gesellschaftsvertrag, der die Demokratien neu festigen soll – und der die grundlegende Frage stellt, wie wir in einer multipluralen Gesellschaft miteinander umgehen sollen, bzw. welche Regeln das gute Zusammenleben braucht.
Dafür unternimmt die Autorin einen kurzen Streifzug durch die Kulturgeschichte, der zeigt, dass die Vorstellungen vom guten Zusammenleben in verschiedenen Kulturen einander stark ähneln. Die in allen Kulturen bekannte Goldene Regel („Alles nun, das ihr wollet, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen“ – Mt. 7,12, S. 59) ist das beste Beispiel dafür. Diese alten Werte sind heute vor allem wieder durch den Begriff „Menschenpflichten“ ins Gespräch gekommen.
Den Menschenpflichten gegenüber stehen die Menschenrechte – eine historisch wesentlich jüngere Idee der Aufklärung, die erst nach dem Holocaust internationale Anerkennung erfuhr bzw. als „letzte Utopie“ auftrat: „An die Stelle einer Mobilisierungsrhetorik, die auf Gewalt setzte, um mit dem Mittel des Klassenkampfs eine bessere Zukunft zu verwirklichen, trat eine Rhetorik der Menschenwürde, die für die Opfer der Gewaltgeschichte eintrat und das verletzliche und bedürftige Individuum unter Schutz stellte.“ (S. 68)
Menschenpflichten ergänzen Menschenrechte
Das alte Konzept der Menschenpflichten mag gegenüber den Menschenrechten zunächst wenig attraktiv wirken. Doch Menschenpflichten sollen Menschenrechte nicht aushöhlen, sie sollen diese ergänzen – und vor allem: „Damit zukünftige Generationen überhaupt noch Rechte wahrnehmen können, müssen sich ihre Vorgänger Schranken auferlegen und Selbstverpflichtungen eingehen. In diesem Punkt sind Rechte und Pflichten immer schon miteinander verkoppelt“ (S. 76). Von Bedeutung ist auch, dass Menschenpflichten niemals eine rechtliche Verpflichtung gegenüber dem Staat oder einem Gott gegenüber sein können, sondern nur gegenüber den Mitmenschen. Tatsächlich hat es auch immer wieder Versuche gegeben, Menschenpflichten zu katalogisieren (vgl. S. 98ff.). Assmann verweist jedoch darauf, dass einhergehend mit den Menschenpflichten neue „Schlüsselbegriffe für eine humane Gesellschaft“ ausgearbeitet und umgesetzt werden müssen: Höflichkeit als Praxis von Zivilität und Sozialität, sowie Anerkennung und Respekt. Vor allem Anerkennung ist ein Begriff, der mit dem Aufstieg der Identitätspolitik neue Aufmerksamkeit erhalten hat, wo Minderheiten um soziale Anerkennung kämpfen: „Akte der Anerkennung sind wichtige Voraussetzungen individueller Identität, sie schließen aber auch Fragen der Zugehörigkeit zu Geschlecht, Klasse, Nation, Religion und ethnischen Herkunftswelten ein“ (S. 134f.). Der Gegenpart der Anerkennung ist die Aberkennung: Diese sei nicht nur ein Mangel an Respekt sondern führe den Opfern schwere Wunden zu und könne bis zum Völkermord gehen (vgl. S. 142f.).
Eine zentrale Rolle spielt Respekt. Erst durch Respekt wird ein Miteinander von unterschiedlichen Menschen überhaupt möglich. Wobei traditionelle Formen von Respekt durchaus das Potenzial zur Unterdrückung haben – etwa Statusrespekt, der sich auf „natürliche“ Hierarchien beruft, oder Leistungsrespekt, wo Individuen auf Grund ihrer Erfolge Respekt genießen. Erst sozialer Respekt sucht danach, Ungleichheit zu überwinden und Ausgegrenzte einzubinden, ebenso wie der relativ junge kulturelle Respekt, der im Gegensatz zum sozialen Respekt Trennendes wieder in den Vordergrund rückt – unter der Prämisse, dass Differenz und Fremdes genauso viel Respekt wie das Eigene verdienen. Diese Form findet sich im Konzept des Multikulturalismus wieder, dessen große Gefahr die Relativierung von Werten ist. Die Autorin plädiert hier für „Zivilisation“: Während Kultur durchaus trennen darf, muss es eine globale Zivilisation geben – universalisierbare Grundwerte, wie etwa die Goldene Regel.
Assmanns Begriffsarbeit für eine humane Gesellschaft trägt zu vielen Debatten bei, vor allem in Bezug auf die allgegenwärtige Integrationsdebatte: Wenn wir uns darauf einigen, ein limitiertes Set an Menschenpflichten zu akzeptieren, welches auf Höflichkeit, Anerkennung und Respekt aufbaut, wird ein gutes Zusammenleben trotz kultureller Unterschiede eine greifbare Möglichkeit – die zentrale Botschaft dieses Buches.