Julia Ebner

Julia Ebner: Massenradikalisierung

Ausgabe: 2024 | 1
Julia Ebner: Massenradikalisierung

Der Sturm auf das Kapitol, das amerikanische Parlament, mit dem Extremist:innen den Wechsel des Präsidentenamtes von Donald Trump zu Joe Biden verhindern wollten, schockierte nicht nur die amerikanische Öffentlichkeit. Wie hatte es so weit kommen können? Das ist die Frage, die die österreichische Wissenschaftlerin Julia Ebner im Buch „Massenradikalisierung“ aufgreift.

Wenig beruhigend wirft sie zu Beginn einen Blick auf die Untersuchungen, wer an diesen Ausschreitungen beteiligt war. Nur ein geringer Teil der wegen des illegalen Betretens des Kapitols Festgenommenen hatte eine eindeutige Beziehung zu rechtsextremen Gruppen. Die Mehrheit des Mobs bestand aus Geschäftsinhaber:innen, Berufstätigen aus angesehen Berufen, nur 7 Prozent waren Arbeitslose. Frauen waren in relevanter Zahl darunter, die Menschen kamen aus allen Teilen der USA. „Was bringt Menschen dazu, das Risiko einzugehen, alles zu verlieren? Und das, obwohl sie einen guten Job und eine liebende Familie haben, die zuhause auf sie wartet?“ (S. 19), fragt Ebner. Die Forscherin argumentiert, dass dieser Aufstand nicht aus dem Nichts kam. Er sei der Kulminationspunkt eines sich über die Jahre vertiefenden, antidemokratischen Ressentiments in rechten, Trumpistischen und verschwörungstheoretischen Netzwerken gewesen.

Undercover in antidemokratischen Netzwerken

Ebner arbeitet wieder „undercover“. Mit falscher Identität sammelt sie in antidemokratischen Netzwerken online und bei tatsächlichen Treffen Informationen, versucht zu verstehen, was Menschen radikalisiert und wie sie zu extremen Positionen hingeführt werden. „Im Laufe der letzten zehn Jahre habe ich dabei zusehen können, wie viele obskure und zunächst unbedeutend kleine Bewegungen zu mächtigen Akteuren eines politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandels wurden“ (S. 27).

In dem Buch wird ein Blick in die Welt der Frauenhasser, der Incels, ermöglicht. Man trifft Klimawandelleugner:innen auf deren Konferenz, verfolgt die Medien der „White Lives Matter“-Gruppen, hört transphobe Menschen sprechen, stößt auf extremistische Impfgegner:innen und professionelle Propagandist:innen Russlands.

Eine wichtige Rolle bei der Radikalisierung spiele die „Identitätsfusion“. Studien seien zu dem Ergebnis gekommen, dass individuelle Identitäten mit einer Gruppenidentität verschmelzen können, wenn die Gruppenmitglieder negative Erfahrungen teilen. „So entwickeln zum Beispiel Armeeveteranen, Fußballfans und Mitglieder von Studentenverbindungen vor allem dann ein Gefühl des Einsseins mit anderen Gruppenangehörigen, wenn sie intensive gemeinsame Erfahrungen wie Kriegstraumatisierung, demütigende Niederlagen oder harte Initiationsriten gemacht haben“ (S. 291). Der Identifikationseffekt mache es wahrscheinlicher, dass eine Gruppe zur Selbstaufopferung oder zur Gewaltanwendung neige, denn jeder Angriff auf die Gruppe wird von ihren Mitgliedern persönlich genommen, was wiederum die Bereitschaft, für die Sicherheit der Gruppe zu kämpfen oder sogar zu sterben, drastisch erhöhe.

Ebner sieht die kommenden Jahre als entscheidend an. „Wir stehen am Beginn eines Jahrzehnts der Massenradikalisierung und der Hyperpolarisierung. Nach nur drei Jahren sind die 2020er Jahre bereits von gesellschaftlichen Gräben durchzogen, die sich entlang der Kampflinien um Antirassismus, Geschlechtergleichheit, Queer-Rechte, Maßnahmen gegen den Klimawandel, Impfstoffakzeptanz und Ukrainekrieg rasant immer weiter auftun“ (S. 31). In all diesen Themenbereichen waren es randständige Subkulturen mit wenig Einfluss, die erst durch internationale Netzwerke und eigene alternative Mediensysteme Macht gewonnen haben. „Stück für Stück haben sie die öffentliche Meinung beeinflusst und einem feindseligen gesellschaftlichen Backslash gegen progressive Bewegungen Nahrung gegeben. So haben sie das ‚Overton-Fenster‘, also das Fenster des akzeptabel Sagbaren, zu ihren Gunsten verschoben und den Weg zur massenhaften Aneignung radikaler Ideen geebnet. Die letzte Stufe wird von gewalttätigen Zusammenstößen zwischen liberalen und illiberalen Zukunftsvisionen charakterisiert“ (S. 282).

Detaillierte Lösungsansätze

Ebner lässt die Leser:innen nicht mit dieser pessimistischen Aussicht zurück, sie sagt, was man tun könne, um dieser Radikalisierung entgegenzutreten. Sie legt detailliert 15 Lösungsansätze dar, im Kern spricht sie sich dafür aus, Berührungspunkte zu anfälligen Personen zu suchen und diese zu nutzen, weiterhin gelte es, Interessengruppen zusammenzubringen, alle Generationen anzusprechen und die technische (Medien-)Trends zu antizipieren und nicht den Extremist:innen zu überlassen.