Annika Domainko, Tobias Heyl, Florian Kessler, Jo Lendle, Georg M. Oswald

Annika Domainko et al. (Hg): Canceln

Ausgabe: 2024 | 1
Annika Domainko et al. (Hg): Canceln

Die Anthologie mit dem Namen „Cancel Culture. Ein notwendiger Streit“ rekurriert schon im Titel auf seine dringliche Agenda. In zwölf interdisziplinären Beiträgen versammeln sich unterschiedliche Autor:innen aus Journalismus, Wissenschaften, Kunst und Kultur und debattieren die je eigene Perspektive auf den Kulturkampf des Cancelns. Die kontroversen Positionen versammeln dabei Einblicke in unterschiedliche Gegenstandsbereiche des sogenannten Cancelns, die sowohl die Wissenschaften, die Kultur, die Politik sowie Ethik und Moral berühren. Dabei werden Methoden und Strategien vorgestellt, paradigmatische Beispiele erneut analysiert und kritisch rekonstruiert, aber auch Meinungen, Sehnsüchte und Erinnerungen geteilt.

Einblicke in diverse Beispiele

So tauchen Pippi Langstrumpf, Jim Knopf oder die Fünf Freunde auf, werden als geteilte deutsche Geschichte im kollektiven Gedächtnis neu überdacht, beschützt oder kritisiert. Mit Adrian Daub zeigt sich das Bewahren der Idole der Kindheit im Falle J.K. Rowlings als reine Form der Nostalgie, die sich in einer unmöglichen Äußerung wiederfindet: „Dass andere nicht sehen, was sie nicht nicht sehen können“ (S. 125)  Asal Dardan fragt sich dagegen, „weshalb man Dinge überhaupt rekapitulieren sollte, wenn man sich eine pluralistische Gesellschaft wünscht, in der die eigenen Kinder als Subjekte ernst genommen und mit anderen als Gleiche ins Leben geschickt werden sollen“ (S. 52). 

Machtfrage als dezentraler Kampf

Strategien des Umgangs findet dagegen Hanna Engelmeier in Dorothee Elmigers Überschreibung von „Die Verlobung in St. Domingo“ und bringt damit einen Vorschlag auch für pädagogische Zwecke auf. Überschreiben, Anmerken, Diskutieren, Konsens finden, Sternchen setzen und sich streiten: Dies alles sind Formen einer demokratischen und kritischen Auseinandersetzung, die auch im Canceln, nämlich als dramaturgische Strichfassung, als Überarbeitung oder Neufassung gängige Praxen des Kulturbereichs widerspiegeln. In diesem Sinne werden auch Kleist, Shakespeares „Othello“ oder Kant zu Beispielen in der Anthologie, welche durch genaue Kontextualisierung und Kritik ins Visier genommen werden. Als reine Phrasen- und Verkürzungsstrategie sieht dagegen Ijoma Mangold das Canceln und wünscht sich eine andere Form der Debattenkultur zurück, die nicht symbolisch funktioniert. Mit Eva von Redecker zeigt Anna-Lena Scholz die Wissenschaften als dynamisches Wissensfeld, das nie allen Menschen offenstand, und Konrad Paul untersucht identitätspolitische Agenden als gezielte Emotionalisierungsstrategie. Die Machtfrage zeigt sich im Buch als dezentraler Kampf, der die Kunstfreiheit wie auch die ästhetische Form zu Gunsten der Inhalte begräbt. Mal als Vorwurf innerhalb der populistischen und rechten Rhetorik, die das Bewahren des Alten unterstreicht und Rassismen radikal reproduziert und nutzt, mal als Strategie einer identitätspolitischen Agenda, welche das Individuum mit symbolischer Macht für strukturelle Probleme bestraft. Ein Kampffeld, das dem antagonistischen Modell der Demokratie genau entspricht.

 

Wissen und Sprache sind keine feststehenden Dinge

 

Die Regeln dieses Kampfes machen die Autor:innen jedoch allzu klar: Das Wissen um die Macht der Fiktion auf die außerliterarische Wirklichkeit ist keine leere Phrase. So kann

eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Cancelns ohne genaue Lektüre, ohne Sensibilität für die Macht der Sprache und ohne immer neue Kontextualisierungen nicht gelingen. Interventionen anzuerkennen, Strategien zu finden oder das Canceln als Kulturpraxis anzuerkennen, kann eine Form der Auseinandersetzung sein. Den Dingen einen Namen zu geben, eine andere. Die Dinge zu bewahren, eine weitere. Doch zeigen die Analysen und Diskussionen um das Canceln auch, dass Wissen und Sprache keine feststehenden Dinge sind. Der Wandel macht erst die Geschichten aus. Und so ist die Antwort auf die Frage „Bist du noch zu retten?“ eine flüchtige und stetig sich verändernde, die das Gespenst des Cancelns einfach mit sich bringt.