Christian Berg

Ist Nachhaltigkeit utopisch?

Ausgabe: 2020 | 4
Ist Nachhaltigkeit utopisch?

„Noch ein Buch über Nachhaltigkeit? Wissen wir nicht längst, was zu tun ist?“ – so beginnt Christian Berg, Professor für Nachhaltigkeit an der TU Clausenthal, seinen Bericht an den Club of Rome, deren deutschem Präsidium er angehört. Ja, wir verfügen über genügend Krisenbefunde und auch über zahlreiche Ideen, wie es anders gehen könnte. Doch was uns fehlt, so der Autor, sei genügend Wissen, wie wir den gebotenen Wandel erreichen. Berg spricht hier von einem „Erkenntnisproblem zweiter Ordnung“ (S. 15). Sein Buch gliedert er in zwei Teile:  Einer Analyse von „Nachhaltigkeitsbarrieren“, welche einem Wandel entgegenstehen, folgen „Handlungsprinzipien“ aus systemischer Sicht.

Barrieren und Lösungsvorschläge

Der Autor referiert eine Fülle an Expertisen aus unterschiedlichen Fachgebieten (insbesondere auch aus der englischsprachigen Literatur), um der Komplexität – ein zentraler Begriff bei Berg – der Herausforderungen gerecht zu werden. Beginnen wir bei den Barrieren: diese können in der menschlichen Natur selbst liegen, etwa im „linearen Denken in kurzen Zeiträumen“ (S. 80) oder in der Kluft zwischen Werten und Verhalten („value-action-gap“, S. 95), aber auch in Pfadabhängigkeiten, der Trägheit von Systemen, Markt- oder Politikversagen, Populismus und Fundamentalismus. Berg beklagt insbesondere die „fehlende Governance für globale Herausforderungen“ (S. 191), die mangelnde rechtliche Institutionalisierung von Nachhaltigkeit (S. 228ff.) sowie die „Fragmentierung von Wissen, Verwaltung und Verantwortung“ (S. 263ff.). Der Autor spricht hierbei von „strukturellen Silos“. Unter „zeitgeistabhängigen Barrieren“ beschreibt Berg schließlich die permanente Beschleunigung, das kurzfristige Denken und den Konsumismus. Eine besondere Hürde macht er im Fehlen der „Erfahrungsdimension“ aus: „Man kann das Artensterben nicht sehen, man kann nicht spüren, wie der Meeresspiegel ansteigt, man kann nicht fühlen, wie die Konzentration von Treibhausgasen zunimmt.“ (S. 86)

Jeder Abschnitt endet mit Lösungsvorschlägen als eine Art Zusammenfassung von Ideen, die bereits existieren: von internationalen Abkommen über nationalstaatliche Ansätze bis hin zu zivilgesellschaftlichen Initiativen wie der Gemeinwohlökonomie oder Suffizienz-Bewegung. Das sinnlich schwer fassbare Erodieren unserer Lebensgrundlagen erfordere das Hören auf die Wissenschaften sowie die Abkehr vom instrumentellen Denken in Ursache- und Wirkungszusammenhängen: „Wir müssen lernen zu verstehen, das komplexe Systeme nicht einfach kontrolliert oder gesteuert werden können; dass es darauf ankommt, die kritischen Einflussgrößen zu identifizieren und über sie zu versuchen, Einfluss auszuüben.“ (S. 90)

Komplexes Denken ist wichtig

Für zentral hält Berg komplexes Denken, welches die Vielfalt an Akteurinnen wie Akteuren und Interessen reflektiert, dabei Zielkonflikte nicht ausspart. Man könne Zielkonflikte nicht auflösen, „aber es gibt Möglichkeiten, mit ihnen umzugehen und sie abzuschwächen“ (S. 104). Partizipation und „ein gesellschaftlicher Diskurs darüber, wie eine gerechte Verteilung von Kosten und Nutzen von Veränderungen aussehen kann“ (S. 148), seien hierfür von großer Bedeutung. Nachhaltigkeitstransformation erfordere „kollektives Handeln durch Myriaden von Akteuren, von lokal bis global“ (S. 307), systemischer Wandel werde sich ereignen, „wenn sich eine hinreichende große Zahl von Akteuren in die richtige Richtung bewegt“ (ebd.). Dafür brauche es – so Berg im zweiten Teil des Bandes – Handlungsprinzipen: diese reichen vom Dekarbonisieren aller wirtschaftlichen Abläufe über die Verbindung von Effizienz, Konsistenz und Suffizienz und nachhaltigem Konsumieren, „lokal, saisonal und vegetarisch“ (S. 328), bis hin zur Anwendung des Verursacher- und Vorsorgeprinzips in den Steuer- und Rechtssystemen. Diese „naturbezogenen Prinzipien“ ergänzt der Autor durch „gesellschaftsbezogene Prinzipien“, etwa: „Die meiste Unterstützung für die am wenigsten Privilegierten“ (S. 359); „Sich um wechselseitiges Verständnis, Vertrauen und multiple Vorteile bemühen“ (S. 361); „Die Stakeholder einbinden“ (S. 367); „Bildung befördern – Wissen teilen und zusammenarbeiten“ (S. 369). Mit „systembezogenen Prinzipien“ fasst Berg dann nochmal seine Grundannahmen für Transformation zusammen, etwa die die Förderung von Vielfalt und Resilienz, die Schaffung von Anreizstrukturen für langfristiges Denken, Handeln sowie Entschleunigung oder die Etablierung von „Reibungsparametern“ (S. 378) gegen starke Rückkopplungen (etwa durch eine Finanztransaktionssteuer auf den Finanzmärkten). Demokratie-politisch von Bedeutung ist auch die Forderung des Autors nach Erhöhung der Transparenz „über öffentlich Relevantes“ (S. 384), wenn es etwa um Missstände in Organisationen, Marktversagen oder Steuerhinterziehung geht.

Anschauliche Vermittlung der Herausforderung nachhaltiger Entwicklung

Christian Berg vermittelt die Komplexität der gegenwärtigen Weltgesellschaft und der Herausforderung nachhaltiger Entwicklung anschaulich. Er nützt dabei Erkenntnisse unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen und fügt diese zu einem Gesamtbild für eine Transformation zusammen, die auf die Stärken der offenen Gesellschaft und die Einsicht und Veränderungsbereitschaft der relevanten Beteiligten setzt. Er steht damit in der Tradition seines Club of Rome-Kollegen Ernst Ulrich von Weizsäcker und ist optimistischer als Dennis L. Meadows, der nur mehr den Weg der bestmöglichen Anpassung an die unweigerlich kommenden Krisen sieht. Er ist auch zuversichtlicher als der frühere Generalsekretär des Club of Rome, Graeme Maxton, der nur noch in radikalen Einschnitten einen möglichen Ausweg aus dem Crash sieht.