
Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels:
Mit „Zukunftsfähiges Deutschland“ hat das Wuppertal-Institut bereits 1996 konkrete Pfade eines Kurswechsels beschrieben. Die Mitte 2018 erschienene Publikation „Die Große Transformation“ kann als eine Art Nachfolgewerk betrachtet werden. Mit einem Unterschied: Es werden nicht nur Zukunftspfade skizziert – in der Publikation als „Wenden“ bezeichnet–, sondern auch Fragen nach dem Wie des Wandels, den AkteurInnen sowie den strukturellen Treibern und Barrieren für Veränderung gestellt.
Der vom Leiter des Wuppertal-Instituts Uwe Schneidewind gemeinsam mit über 60 (!) angeführten Co-AutorInnen verfasste Band gliedert sich in drei Abschnitte. Zunächst werden einmal mehr die Herausforderungen und Ansätze eines Kurswechsels beschrieben – von den planetaren Grenzen des Wachstums und einer „doppelten Entkopplung“, die neue Technologien und andere Wohlstandsmodelle einfordert, über die Sustainable Development Goals bis hin zu einer „dekarbonisierten Weltwirtschaft“ sowie einer „8-Tonnen-Gesellschaft“. Von „drei Transformationsschulen“ wird dabei gesprochen, die – so Schneidewind – kombiniert werden müssen: 1) Veränderung über neue Technologien und Infrastrukturen, 2) Veränderung durch neue institutionelle Regelwerke und 3) Veränderung durch neue Ideen, also andere, spannende Erzählungen von einem guten Leben, globalen Gerechtigkeitsvorstellungen und Wertesystemen. Schneidewind spricht hier von „nachhaltiger Entwicklung als kulturelle Revolution“ (S. 23).
Im zweiten Abschnitt werden sieben „Wenden“ näher ausgeführt: die Wohlstands- und Konsumwende, die Energiewende, die Ressourcenwende, die Mobilitätswende, die Ernährungswende, die urbane Wende und schließlich die industrielle Wende. Das gesamte Know-how der Wuppertaler Nachhaltigkeitsschmiede fließt in diese Zukunftsszenarien ein, wobei auch weniger bekannte Aspekte wie die Chancen einer digitalen Kreislaufwirtschaft beschrieben werden.
Im dritten Abschnitt „Akteure – Transformation in geteilter Verantwortung“ werden die Rolle der Zivilgesellschaft, der Politik, der Wirtschaft und der Wissenschaft beleuchtet. Das „Wuppertaler Transformationsmodell“ (S. 476) geht vom Zusammenwirken der genannten Akteure auf verschiedenen Ebenen aus, wobei Pionieren des Wandels eine Katalysatorfunktion zugeschrieben wird. Als „Zukunftskunst“ gilt demnach die „Beeinflussung von Transformationsprozessen in ihren technologischen, ökonomischen, institutionellen und kulturellen Dimensionen“ (ebd.).
Kapitalismus reformieren
Der Kapitalismus soll dabei nicht überwunden, sondern eben transformiert werden. Dies sei nicht nur aus ökologischen, sondern auch aus sozialen, individualpsychologischen und demokratischen Gründen nötig. Mit Karl Polanyi wird eine Wiedereinbettung der Wirtschaft in die Gesellschaft gefordert, die Aufrechterhaltung von Überproduktion und Überkonsumption als Stabilisator des globalen Kapitalismus sei dabei ein Problem (vgl. S. 70). Gesprochen wird mit Maja Göpel von einer „Eisenkäfig“-Ökonomie (S. 77), die Gesellschaften und Individuen einsperre und zu Dysfunktionalitäten führe.
Reformansätze seien bekannt, nur noch nicht umgesetzt. Auf globaler Ebene brauche es eine CO2-Besteuerung, die Einrichtung von Klimafonds, eine modifizierte Handelspolitik, eine Finanztransaktionssteuer sowie die Ausweitung der Commons. Auf EU-Ebene werden ein verändertes Wettbewerbsrecht mit einem Externalisierungsverbot, ein Kreislaufwirtschaftsgesetz, die Reduzierung des Steuerwettbewerbs sowie der soziale Ausgleich zwischen den Staaten gefordert. Auf nationaler Ebene seien der bewusste Erhalt/Aufbau öffentlicher Industrien/Sektoren sowie die Umsetzung neuer Formen sozialer Sicherung, etwa durch ein Grundeinkommen, denkbar. Auf lokaler Ebene wird das Schaffen von Gemeinwohl-Flächen und -Räumen sowie die Einführung von Regionalgeld genannt (vgl. S. 97).
Sharing-Ökonomie, Service-Märkte und fairer Handel
Gehofft wird auch auf den Einfluss kritischer KonsumentInnen im Sinne einer „Moralisierung der Märkte“ (S. 366), um die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, etwa der Sharing-Ökonomie, der Service-Märkte oder des fairen Handels voranzutreiben. Vorausschauendes Handeln werde für die Wirtschaft in einer Zeit großer Umbrüche immer wichtiger, so die AutorInnen. Resiliente Unternehmen würden „die Zukunft antizipieren und dabei dennoch ökonomische Stabilität unter aktuellen Marktbedingungen gewährleisten können“ (S. 375). Schließlich setzen die ExpertInnen darauf, dass sich immer mehr Unternehmen auch als gesellschaftliche Akteure begreifen und neben den vom Shareholder Value getriebenen multinationalen Konzernen, Familien-, Genossenschafts- oder stiftungsbasierte Unternehmen sowie neue Formen kollaborativer Ökonomie an Bedeutung gewinnen (vgl. S. 382f.). Notwendig sei aber, dies wird mehrfach betont, ebenso die Transformation von Großunternehmen in Kernbereichen wie Mobilität, Ernährung, Immobilien- und Finanzwirtschaft, was durch Dialog und politische Vorgaben erreicht werden müsse.
Der Band bietet eine Fülle an Anregungen und Konzepten aus der Wissenschaft, wie eine Transformation in nachhaltige Gesellschaften in einem Mehrebenen-System angegangen werden kann. Neu ist – und das mögen manche kritisieren –, dass nicht mehr von Bekämpfung oder gar Abschaffung des Kapitalismus gesprochen wird, sondern von seiner Transformation. Entscheidend wird freilich sein, ob den Treibern der Nicht-Nachhaltigkeit, also den immensen Gewinnen aus dem Verbrennen fossiler Energie (eine Abkehr davon würde ja für die Betreiber einer gigantischen Wertvernichtung gleichkommen) bis hin zum blinden Konsumwachstum, Einhalt geboten werden kann.
Von Hans Holzinger
Die Große Transformation. Hrsg. v. Uwe Schneidewind. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2018. 520 S. € 12,- [D], 12,40 [A]