Jörg Scheller

Identität im Zwielicht

Ausgabe: 2021 | 4
Identität im Zwielicht

„In der Medienöffentlichkeit, vor allem in Meinungsbeiträgen, Kommentarspalten und Posts in den sozialen Netzwerken, ist Identitätspolitik ein Reizthema, ein Feld voller strategischer Missverständnisse. Aktivistische und analytische Ansätze werden munter vermischt oder es werden aufmerksamkeitsökonomische Debatten inszeniert, in denen viel geklickt wird und es wenig Klick macht.“ (S. 15)

Jörg Scheller schreibt demgegenüber einen klar strukturierten Essay, der gegenwärtige Debatten analysiert. Dabei kritisiert der Autor, dass allzu oft gar nicht über Identitätspolitik als solche diskutiert werde, sondern vor allem über identitäre Vorstellungen, was genau Identitätspolitik sei. Scheller erklärt Identitätspolitik als unumgänglich, um Situationen zu analysieren und Verständnis für Andere zu entwickeln. Das sei grundsätzlich erst einmal eine Chance, kein Problem. Problematisch seien dagegen polemischen Verzerrungen. „In diesen Schaukämpfen geht es selten darum, Stärken und Schwächen von Identitätspolitik nüchtern und verantwortungsvoll zu analysieren, sondern darum, Identitätspolitik zu instrumentalisieren.“ (S. 17) Ob überhitzter Diskussionen plädiert Scheller für Sachlichkeit. Außerdem für Differenzierung und vor allem grundlegende Quellenarbeit.

Scheller liefert Quellenarbeit, indem er beispielsweise erklärt, wie sich der Identitätsbegriffs gewandelt hat. Wurde aus westlicher Perspektive einst „individuell-innerlich“ darunter verstanden, so steht heute die sogenannte soziale Komponente im Mittelpunkt, also Gruppenidentitäten, die sich durch äußere Einflüsse und Strukturen geprägt sehen. (S. 55) Scheller erklärt auch diverse Theorien und (Grundlagen-)Texte, die für den Diskurs relevant sind, allen voran The Combahee River Collective Statement von 1977.

Und Scheller liefert Differenzierung, indem er unter anderem zwischen einem deskriptiv-analytischen und einem präskriptiv-ideologischen Gebrauch von Identitätspolitik unterscheidet, außerdem nimmt er eine Unterteilung in Thinking Identity Politics und Doing Identity Politics vor: Einmal liegt der Fokus auf Theorien, Konzepten und Diskursen; einmal auf der Frage, wie, von wem, wann und in welchen Kontexten eben diese umgesetzt werden. (S. 37f.)

Soweit in aller Kürze. Das kleine Büchlein macht Scheller zu einer relevanten, öffentlichen Stimme im Diskurs. Die Lektüre lohnt.