Nicole Gess

Halbwahrheiten

Online Special
Halbwahrheiten

Der Basler Germanistin Nicola Gess gelingt – ganz dem Reihenprogramm entsprechend – ein diskutables Stück fröhlicher Wissenschaft. Die zentrale Frage: Lässt sich eine genuin philologische Theorierichtung, die Narratologie bzw. Erzähltheorie, für die Analyse politischer und sozialer Diskurse fruchtbar machen? Zwischen Mut und methodischer Fraglichkeit changierend bejaht Gess mit der These, man könne den (subjektiv gefühlten oder objektiv quantifizierbaren) Erfolg von Halbwahrheiten, Fake News oder Verschwörungstheorien (oft wenig trennscharf benutzt) produktionsästhetisch erklären. Demnach seien weder die sozialen Medien mit den ihnen eigenen kommunikativen Rahmenbedingungen noch ein sozialpsychologisch erklärbares Bedürfnis des Publikums nach Orientierung und Kohärenz für deren Erfolg verantwortlich. Vielmehr handle es sich um ein vornehmlich von rechter Seite (S. 16 und 48) bewusst eingesetztes Instrument zur Beeinflussung der politischen Meinungsbildung. Diese sehr eng gehaltene These versucht Gess mithilfe dreier case studies zu stützen. Geht dieses Vorhaben bei dem (mittlerweile gesperrten) YouTuber Ken Jebsen und dem (von seinem Verlag Suhrkamp fallen gelassenen) Schriftsteller Uwe Tellkamp noch auf, verlässt Gess bei der Analyse des nur schwerlich als Rechtspopulisten zu bezeichnenden ehemaligen Spiegelredakteurs Class Relotius die ausgemachte Verantwortungsgruppe.

In allen drei genannten Fällen ist es Gess‘ zentrales Anliegen, aufzuzeigen, inwiefern ein bloßer Faktencheck als Antwort auf Halbwahrheiten eben nicht ausreichend ist, sondern in einem zweiten Schritt immer auch ein Fiktionscheck mithilfe der Erzähltheorie zu erfolgen hat. Gess selbst legt dabei großen Wert auf Belegbares und intersubjektive Nachvollziehbarkeit. So besteht mehr als ein Drittel des Bändchens aus Endnoten und Literaturverzeichnis. Gess‘ Argumentationen im zweiten Schritt, also dem Fiktionscheck, bleiben dabei leider immer wieder im Vagen und Unklaren. Dies liegt eventuell in ihrem theoretischen Fundament begründet. Dieses besteht entgegen des peritextuell aufgespannten Erwartungshorizonts nur marginal aus literaturtheoretischen Arbeiten zur Narratologie, sondern besonders aus den politologischen bzw. soziologischen Arbeiten Hannah Arendts und Theodor Adornos (S. 7-49). Wichtige Referenzen wie Albrecht Koschorkes Wahrheit und Erfindung oder Monika Fluderniks Arbeiten zum faktualen und fiktionalen Erzählenwerden nur im Vorbeigehen aufgegriffen, wodurch fruchtbringende Anknüpfungspunkte unzureichend angesteuert werden. Dies zeigt sich deutlich im letzten Kapitel zu Uwe Tellkamp. Dessen provokative Aufzählung von Inzidenzen unterdrückter Meinungsäußerungen in Deutschland anlässlich einer Podiumsdiskussion in Dresden kanzelt Gess mit Verweis auf dessen unsaubere Zitation und ein (zurecht) falsch eingeordnetes Josef Joffe-Zitat als „Collage von Halbwahrheiten“ (S. 91) ab. Inwiefern hier mit narratologischen Methoden gearbeitet wird, bleibt unklar. Naheliegender wäre hier wohl eine intertextuelle Lektüre, etwa vor dem Hintergrund von Julia Kristevas Konzepten der Permutation und Transformation. Unklar bleibt auch die methodische Orientierung in Gess‘ Analyse von Tellkamps offenem Brief in der Zeitschrift Sezession. Fraglich bleibt besonders die argumentative Einbindung anonymer Beiträge im Kommentarbereich zum Brief mit dem Verweis, es handle sich hierbei um „Mikroerzählungen“ (S. 98). Zuletzt hätte dem Buch ein sauberes Lektorat nicht geschadet. Immer wieder tendiert Gess bei negativ besetzten Begriffen („Lügner“, S. 8, „rechtspopulistische (...) Akteure“, S. 16) zum (generischen?) Maskulinum, bei neutralen Begriffen zu jeweils eigenständig aufgeladenen Alternativlösungen („Durchschnittsleser:innen, S.35, „Leserinnen und Leser“, S. 61).

Gess legt ein provokantes Buch vor, das zurecht mit viel Aufmerksamkeit bedacht wurde. Gerade wegen der vielen Fragen, die es aufzuwerfen vermag, sei ihm ein breites Publikum gewünscht.