Katharina Glawischnig

Für einen mehr ist auch noch Platz

Ausgabe: 2022 | 4
Für einen mehr ist auch noch Platz

Wie gestaltet sich das Ankommen in einem fremden Land für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF)? Was für Erwachsene bereits eine enorme Herausforderung darstellt, ist für unbegleitete Kinder mit Fluchterfahrung weitaus schwieriger: Bis zum Jahr 2015 waren etwa geflüchtete Kinder und Jugendliche einer Ungleichbehandlung im Vergleich zu sonstigen fremdbetreuten Kindern ausgesetzt, denn ihnen war es nicht möglich, in eine Pflegefamilie aufgenommen zu werden. Katharina Glawischnig war maßgeblich dafür verantwortlich, dass auch sie Platz in einer Pflegefamilie finden können. Ihr Vorhaben, Zugang zu Pflegefamilien für UMF zu schaffen, konnte die Juristin gemeinsam mit der Wiener Kinder und Jugendhilfe verwirklichen. Aus den daraus resultierenden Erfahrungen entstand schlussendlich dieses Buch, welches sowohl für Familien, die sich für die Aufnahme von geflüchteten Kindern interessieren, wie auch für Fachkräfte geschrieben wurde. Im ersten Teil beschreibt Glawischnig die vielfältigen Erfahrungen von Pflegefamilien sowie Fachpersonal und ehrenamtliche Helfer:innen mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Der zweite Teil gibt den Geschichten der Familien  Raum, um die Herausforderungen wie auch das Glück einer solchen familiären Konstellation zu verstehen.

 

Eng geknüpftes Netz an Unterstützung

Nach einer Fluchterfahrung anzukommen, sich in einen neuen Alltag und eine neue Familie zu integrieren, erfordert Hilfe auf allen Ebenen. Neben rechtlichen Belangen, die von der Kinder- und Jugendhilfe übernommen werden, braucht es weitere Ansprechpartner:innen. In Wien wurde dafür etwa der Verein KUI beauftragt, die Vermittlung und Begleitung von Kindern und Familien zu übernehmen. Dem ursprünglichen Konzept nach waren 25 zu betreuende Familien pro Fachkraft geplant, was sich jedoch schnell als zu große Belastung für die Mitarbeiter:innen herausstellte. In der Praxis lag das Limit für eine Vollzeitkraft bei 20 Familien „und selbst diese Anzahl hätte niedriger sein sollen, um noch ausreichend Zeit für Psychohygiene, umfassende Dokumentation und Kommunikation mit der jeweiligen Vertrauensperson zu lassen.“ (S. 51) Darüber hinaus bilden die ebenfalls von KUI entsandten, ehrenamtlichen, muttersprachlichen Vertrauenspersonen eine wertvolle Vervollständigung des Betreuungsnetzes. „Durch regelmäßige Kontakte zur Pflegefamilie im Gesamten und separate Kontakte zu den Pflegekindern und zu den Pflegeeltern wird bei KUI sichergestellt, dass sich das Familienverhältnis entsprechend jenem von leiblichen Eltern und ihren Kindern entwickelte.“ (S. 53)

Ankommen und Auskommen

Erfahrungswerten zufolge sind Flüchtlingskinder binnen drei Monaten  in der Lage, den Großteil der Kommunikation um sie herum zu verstehen. Nach etwa sechs Monaten brauchen sie nur noch in „besonderen Lebenslagen oder spezifischen Themen Unterstützung durch DolmetscherInnen.“ (S. 53) Neben der sprachlichen Integration benötigen Kinder und ihre (Pflege-)Familien weiterhin viel Kontakt und Hilfe durch Fachpersonal und Vertrauenspersonen, wobei sich folgende Begleitinstrumente als erfolgreich bewährt haben: Hausbesuche, Beratungsgespräche für Pflegekinder und je eigene Gespräche auch für Pflegeeltern, Informationsgespräche mit den leiblichen Eltern oder Verwandten der Kinder und eigene Austauschgruppen und Workshops für Pflegekinder und Pflegeeltern. Jeder der gelisteten Aspekte wird im Buch ausführlich erklärt, so sei es für die Einzelgespräche mit den Pflegekindern sinnvoll, diese mit der monatlichen Auszahlung ihres Taschengeldes zu verbinden. Denn damit könne sichergestellt werden, dass die Kinder und Jugendlichen nicht nur bei Problemen das Gespräch suchen, sondern auch in sorgenfreien Zeiten für die Betreuer:innen erreichbar bleiben. Auch dem Verhältnis zur leiblichen Familie werden Erfahrungsbeiträge gewidmet, sowohl im Positiven wie auch im Negativen. „Häufig ging es jenen Kindern psychisch besser, die weniger Kontakt mit der Heimat pflegten, da sie dadurch weniger hin- und hergerissen waren. Jedoch ist zu betonen, dass eine Kontaktbeschränkung von Seiten der Pflegeeltern absolut kontraproduktiv gewesen wäre.“ (S. 61) Nicht minder belastend sind die (zu) langen Bearbeitungszeiten von Asylanträgen, sowohl für die UMF wie auch für Pflegefamilien, denn neben den Sorgen und der Bürokratie ist es der Mangel an langfristiger Planbarkeit, welcher den Familien zusetzt.

Pflegefamilien sind eine wunderbare Möglichkeit, um unbegleiteten Kindern und Jugendlichen ein gutes Ankommen in einem neuen Land zu ermöglichen. Dabei ist es aber unbedingt notwendig, ein engmaschiges und vielseitiges Netz an Unterstützungsleistungen zu knüpfen, denn zu traditionellen familiären Herausforderungen gesellen sich hier viele weitere Faktoren hinzu. Gelingt all dies jedoch, dann finden nicht nur Kinder eine neue Heimat, sondern es werden auch „Brücken zwischen Kulturen und Religionen gebaut, die nicht mehr eingerissen werden können.“ (S. 135)