Das „Friedensprojekt Europäische Union“ wird oft bemüht, gilt aber offensichtlich nur für die eigenen Bürgerinnen und Bürger. An den EU-Außengrenzen sterben fast täglich Flüchtlinge und es wird versucht, Europa militärisch abzuschotten. Nur dann, wenn Flüchtlingsboote vor der Insel Lampedusa kentern, findet das Thema wieder mediale Aufmerksamkeit. Diese Flüchtlingskatastrophen zu verhindern und Auswege aus europäischen Abschottungspolitik (aufgrund der Dublin II-Verordnung) zu finden, war Anliegen der 30. Internationalen Sommerakademie der Friedensburg Schlaining, deren Beiträge hier dokumentiert sind. Dabei werden sowohl historische Hintergründe aufgezeigt als auch das komplexe Zusammenwirken politisch-strategischer Erwägungen und wirtschaftlicher Interessenslagen analysiert und Vorschläge unterbreitet, wie ein gerechteres Europa und auch eine neue „Willkommenskultur gegenüber Neuankömmlingen in unserer Gesellschaft“ erreicht werden könnte.
Sterbenlassen an der Südgrenze
„17.306 dokumentierte Tote von 1993 bis November 2012 an den Außengrenzen der EU, davon mindestens 13.500 im Mittelmeer und eine Dunkelziffer von vielleicht doppelt so vielen Ertrunkenen im Mittelmeer und im Atlantik zwischen Senegal und den Kanaren - das ist ein Vielfaches der Todesopfer, die die Systemgrenze zwischen Ost und West während des gesamten Kalten Kriege zwischen 1946 und 1989 gekostet hat.“ (S. 137) Diese Zahlen nennt der Friedens- und Konfliktforscher Reiner Steinweg. Ihm geht es in erster Linie darum zu zeigen, wie dem Massensterben und Sterbenlassen an der europäischen Südgrenze zu begegnen sei. Bereits Mahatma Gandhi hat die konstruktive Alternative gefordert. Notwendig seien zudem belegbare Antworten auf das Argument, „Wir können doch nicht alle aufnehmen“. (vgl. S.1 44). Im Sinne Martin Luther Kings schlägt Steinweg vier Schritte als Grundlage jeder gewaltfreien Aktion vor: 1. Fakten sammeln, 2. Verhandeln, 3. Selbstreinigung (purification) und nach Ausschöpfung aller legalen Mittel darf 4. die „gewaltfreie Aktion bzw. der zivile Ungehorsam, die bewusste gemeinsame Übertretung einer als unethisch angesehenen Verordnung, eines moralisch illegitimen Gesetzes beginnen“ (S. 145).
Eine zu entfaltende Kampagne gegen das Sterbenlassen an den europäischen Grenze müsste also zunächst noch mehr Fakten zur Verursachung des kolossalen Flüchtlingsstroms aus Afrika sammeln. Dazu gehören für Steinweg auch Tatsachen wie das weitgehende Leerfischen der afrikanischen Küsten, die Enteignung durch Land Grabbing, die Zerstörung der Kleinmärkte im ländlichen Afrika und die Ausbeutung der Rohstoffreserven vieler Länder zugunsten der jeweiligen Eliten (vgl. S. 146). Zu Punkt 2 (Verhandeln) zählt der Autor Verhandlungsmacht, also eine ausreichende Anzahl an Aktivisten, die das Gleiche wollen. Die Selbstreinigung vor einer Aktion des zivilen Ungehorsams würde schließlich ausreichend vorbereitende Versammlungen (genannt „Ratschläge“ oder „Palaverakademien“) mit den Beteiligten erfordern. „Für die eigentliche Aktion - den vierten Schritt - sind Vorbereitungstreffen der zur Aktion Entschlossenen nötig, bei denen ‚Bezugsgruppen‘ gebildet werden, wie sie sich seit den Mutlangen-Protesten gegen Pershingraketen bewährt haben.“ (S. 147)
Eine entscheidende Wende in der Flüchtlingspolitik in Europa fordert die Grüne Politikerin Alev Korun. Europäische Politik solle nicht Abwehr von Menschen, sondern menschenwürdige Aufnahme und Versorgung, eine solidarische Aufteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Länder mit einem klaren Verteilungsschlüssel sowie die Rückkehr zu einer Praxis der legalen Einreisemöglichkeit für Verfolgte sein. Alfred Auer
Flucht und Migration. Hrsg. v. Elias Bierdel … Von Grenzen, Ängsten und Zukunftschancen. Wien: LIT-Verl., 2014. 198 S. (DIALOG. Beiträge zur Friedensforschung ; 65)