Die Veränderungen des alten europäischen Systems, so die zentrale These des Journalisten Klemens Ludwig, lassen sich auf zwei unterschiedliche Entwicklungen zurückführen. Während im Westen das alte nationalstaatliche Modell einer vorwiegend wirtschaftlichen Integration weicht, erlebt dieses in Osteuropa eine Renaissance. Durch diese widersprüchlichen Tendenzen erscheint auch das Phänomen des Nationalismus in einem neuen Licht. Völker ohne Staaten, die bisher unter der strengen Kuratel eines Zentralstaates standen, sehen in einer europäischen Integration neue Perspektiven für ihre kulturelle Identität und Selbstbestimmung. Gegenstück zu diesem emanzipatorischen Nationalismus sind jene intoleranten und auch antisemitischen Strömungen, die etwa in Polen oder in Rußland die Geister einer längst vergangen geglaubten Zeit wieder wachrufen. Der Beschreibung dieses janusköpfigen neuen Europas, seiner historischen Genese und aktuellen Problematik ist der erste Teil des Buches gewidmet. Einer grundsätzlichen Betrachtung der Phänomene "Nation und Nationalismus" kommt der zweite Abschnitt nach. Die Analyse zeigt, daß die politischen Funktionen des Nationalstaats in der Geschichte höchst unterschiedlich waren; er war Instrument der Emanzipation, der Modernisierung, aber auch der Herrschaftslegitimation. Als ethnische und sprachliche Einheit ist die Nation jedoch bloßes ideologisches Konstrukt und völkische Fiktion. Der Nationalismus darf aber nicht als ausschließliches Phänomen der politischen Rechten interpretiert werden, sondern zeigt sich - wie Ludwig etwa am Beispiel der schottischen Nationalbewegung darstellt - durchaus mit sozialistischen Ideen kompatibel. Wie ein zukünftiges Europa mit den Problembereichen Nationalismus und Minderheiten umgehen könnte, versucht der abschließende Abschnitt darzustellen. Als vorbildhaft werden das Autonomiestatut für Südtirol oder auch der Umgang mit der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein präsentiert. Die entscheidende Frage, ob letztlich der Zerfall oder die Vereinigung zum dominierenden Entwicklungsmuster der europäischen Geschichte der Jahrtausendwende werden wird, bleibt letztlich offen. G.S.
Ludwig, Klemens: Europa zerfällt. Völker ohne Staaten und der neue Nationalismus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Verl., 1993. 224 S., DM 12,90 / sFr 10,90/ ÖS 100,60