Erschöpfter Sozialstaat, soziale Gerechtigkeit

Ausgabe: 1994 | 3

Nach Ansicht Beckers ist die Zahl der Töpfe, die aus den Beiträgen derer gefüllt werden sollen, die Arbeit leisten und geben, zu groß. Marktwirtschaftlich betrachtet heißt das: zu hohe Beiträge lassen nicht nur Arbeitskräfte, sondern auch Arbeitsplätze so teuer werden, dass die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen leidet. Mögliche Folgen: Pleite oder Standortverlegung ins (noch) günstigere Ausland. Dies wiederum bedeutet den gänzlichen Entfall von Beitragszahlungen. Beckers scheinbarer Angriff auf den Sozialstaat heutiger Prägung entpuppt sich bei näherem Hinsehen als an der politischen Realität orientierte Forderung mit dem Ziel, das Wichtige und Notwendige zu retten, ehe der aufgeblähte Komplex des Sozialapparats kollabiert.

Der Missbrauch der "Sozialpolitik als politischer Strategie" steuert seinem Ende zu. Allein die Kostenexplosion im Sozialbereich macht es unmöglich, dem Wahlvolk glaubhaft neue "soziale" Versprechen zu verkaufen; steht doch schon die Einlösung früherer Versprechungen wegen der allerorts gespannten Haushalte sehr in Frage. Der Autor plädiert nachdrücklich dafür, sich den sozialpolitischen Tatsachen zu stellen und Themen wie Überalterung nicht länger herunterzuspielen. Es kommt zu einer bloßen Verschiebung von Geldern, die noch dazu einen hohen Aufwand an Verwaltungskosten erforderlich macht.

Der Autor stellt auch die Frage nach der vielzitierten „neuen Armut" und ihrem Verhältnis zu einer stetig wachsenden Erwartungshaltung. Der Staat als Lückenbüßer in punkto Erziehung, Wohnung, Familienleben. Auch hier ortet Becker, bei Veränderung der Rahmenbedingungen durch den Gesetzgeber, ein Einsparungspotential. Es bedarf s. E. der Steigerung persönlicher Verantwortung. Die Gleichgültigkeit gegenüber den Konsequenzen des eigenen Handelns darf nicht das Ergebnis umfassender sozialer Absicherung sein. Die verstärkte Einbeziehung wirtschaftlicher Gesichtspunkte bei Angebot und Umfang sozialer Dienste ist wohl legitim und unausweichlich, doch bedarf sie hoher Sensibilität und der Bereitschaft, auch nach anderen Sparpotentialen Ausschau zu halten.

M. T

Becker; Joachim: Der erschöpfte Sozialstaat. Neue Wege zur sozialen Gerechtigkeit.

Frankfurt/M.: Eichborn, 1994. 164 S., DM 24,80/sFr 21,-/ÖS 193