Sozialpolitik hat die Aufgabe, Menschen in krisenhaften Lebenssituationen zu unterstützen und zu starke Ungleichheiten im Wirtschaftssystem auszugleichen. Der Wohlfahrtsstaat gilt als Korrektiv gegenüber dem Marktversagen und den Zerrüttungen des Kapitalismus. Aktuelle Kritik an der Sozialpolitik bezieht sich auf ihre Starrheit gegenüber demografischen Verschiebungen, auf ihre Funktion als Symptom-Behandlerin, als Legitimationsbeschafferin für den Status quo sowie generell auf die schwindende Fähigkeit, Armut und Ungleichheit entgegenzuwirken. Gisela Kubon-Gilke und Remi Maier-Rigaud stellen die Frage, wie diesem Reformstau angesichts neuer Herausforderungen wie Digitalisierung, Klimawandel oder Pandemien (!) entgegengewirkt und wie neue Gesellschaftsutopien hierfür fruchtbar gemacht werden können. In ihrer vergleichenden Analyse beziehen sie sich auf „Realutopien“, welche „gesellschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigen und gleichzeitig Stärken und Schwächen der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung identifizieren“ (S. 26). „Konsistente, in sich geschlossene Gedankengebäude“, die wünschenswerte Alternativen beschreiben, bezeichnen die Autorinnen dabei als „Sozialgestalten“, die sie von lediglich vagen „sozialen Ideen“ abgrenzen (S. 28f.). Als Analysekriterien gelten ihnen dabei Wünschbarkeit, Gangbarkeit und Erreichbarkeit, ergänzt um die Aspekte Partizipation und Offenheit.
Sozialpolitik und Kapitalismus
Sozialpolitik stütze in einem dialektischen Sinne einerseits den Kapitalismus, schwäche ihn aber gleichzeitig und fördere „die schrittweise Transformation zur neuen partizipativeren, demokratischeren Sozialgestalt“ (S. 81), so die beiden. Anders: Solange eine Ordnung als stabil wahrgenommen wird, komme es zu keinen nennenswerten Veränderungen. „Viele kleine Dissonanzen können [jedoch] Sozialgestalten und das Verhältnis von Markt- und Staatsgestalt instabil werden lassen und den Kairos für neue Sozialgestalten eröffnen.“ (S. 142) Aktuell befänden wir uns in einer solchen Umbruchszeit: zunehmende Ungleichheit, Erosion der Normalarbeitsverhältnisse oder die wachsenden ökologischen Krisen seien Belege dafür.
In ihrer umfangreichen Analyse bewerten Kubon-Gilke und Maier-Rigaud diverse Ansätze wie einen „demokratischen Sozialismus“ (Heimann, Wright), einen „progressiven Kapitalismus“ (Stiglitz), den herrschaftsfreien Diskurs (Habermas), die „reduktive Moderne“ (Welzer), die christliche Sozialethik, die Genossenschaftsbewegung sowie Modelle der Wirtschaftsdemokratie mit neuen Eigentümerrechten (Varoufakis u. a.) oder Staatsbeteiligungen und Staatsfonds (Corneo, Atkinson). In der Reflexion des Übergangs vom „Kausal- zum Finalprinzip“ (S. 155), also von der defizitorientierten hin zu einer präventiven Sozialpolitik, die „widerstandsfähige Lebensweisen fördert, ohne ins Paternalistische zu kippen“ (S. 156), werden auch neue Ansätze wie eine Bürgerversicherung, ein bedingungsloses Grundeinkommen sowie die negative Einkommensteuer er-örtert. Nach Einschätzung der Autorinnen und Autoren notwendige Ansätze, die von der Erwerbszentrierung der Sozialsysteme wegführen. Im Kontext von Nachhaltigkeit werden auch die Postwachstumsbewegung (exemplarisch Sommer/Welzer, Seidl/Zahrndt), der Konvivialismus (Manifest für eine „neue Kunst des Zusammenlebens“, S. 211) sowie die Gemeinwohlökonomie (Felber, „trotz aller anregenden Gedanken (noch) keine Realutopie“, S. 222) behandelt. Der Fokus – das ist eine der Stärken des Buches – liegt auf den möglichen Transformationswegen im Dreieck zwischen Wirtschaft, Staat und Zivilgesellschaft sowie der Balance zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohl bzw. Reziprozität.
Gute Zusammenschau über Neuansätze
Kubon-Gilke und Maier-Rigaud geben eine gute Zusammenschau über unterschiedliche Neuansätze, sie halten sich mit eigenen Wertungen zurück, zitieren vielmehr Pro-Contra-Stimmen aus der wissenschaftlichen Literatur, überprüfen die Modelle jedoch an ihren Kriterien, der Wünschbarkeit, Gangbarkeit und Erreichbarkeit. Deutlich wird, dass geschlossene, revolutionäre Utopien weitgehend passé sind, schrittweise Umgestaltungen überwiegen, was diese von bisherigen Reformen lediglich durch die Tiefe der Eingriffe unterscheidet. Was wohl mit dem von Claus Offe zitierten Befund zusammenhängt, dass der Sozialstaat wohl ein Korrektiv zur typisch kapitalistischen Wirtschaftsstruktur sei, gleichzeitig aber auch von dessen Funktionieren abhänge: „Sozialstaat und Kapitalismus gingen sozusagen ein symbiotisches Verhältnis ein.“ (S. 154). Auffallend an den Befunden bleibt freilich, dass Politik als Gestalterin des Staates zwar erwähnt wird, die Rolle politischer Parteien oder auch der Gewerkschaften aber kaum benannt wird. Vielmehr gibt der Band einen exzellenten Einblick in die aktuellen sozialwissenschaftlichen Konzepte zur Umgestaltung der Sozialpolitik.