Der bekannte Cambridge-Soziologe und - mit Ulrich Beck - Vertreter einer sogenannten „zweiten Moderne“ (vgl. etwa „Der dritte Weg“ PZ 1/1999*11) teilt die Positionen in der gegenwärtigen Globalisierungsdebatte in „Globalisierungsskeptiker“ und sogenannte „Radikale“. Während erstere (sie sind für Giddens v.a. in der alten Linken zu finden) behaupten, die Globalisierung sei nur eine Ideologie der Verfechter der freien Marktwirtschaft, um Wohlfahrtssysteme demontieren und Staatsausgaben beschneiden zu können, sehen zweitere in dieser einen alle Bereiche des Lebens einschneidend verändernden Transformationsprozess der Wirtschaft. Giddens selbst neigt der zweiten Position zu, wirft aber beiden Fraktionen die Reduzierung auf das Ökonomische vor, während für ihn die Globalisierung die Bereiche Politik, Technologie und Kultur ebenso gravierend verändert. Ein Prozess, der Chancen wie Gefahren berge.
Die hier dokumentierten, für die BBC gehaltenen Vorlesungen thematisieren daher die Wirtschaft nur am Rande. Globalisierung wird unter den Begriffen „Risiko“, „Tradition“, „Familie“ und „Demokratie“ erörtert.
Politisch erzeuge die Globalisierung nicht nur einen „Sog nach oben, sondern auch einen Druck nach unten“ und eine Wiederbelebung der „Forderung nach lokaler Selbständigkeit“ (S. 24). Diese Dezentralisierung entziehe die Globalisierung „der Kontrolle irgendeiner Gruppe von Nationen oder gar großer Unternehmen.“ (S. 28) Es entstünden „neue Wirtschafts- und Kulturzonen innerhalb der Nationen und über ihre Grenzen hinweg“ (S. 25), und zugleich etwas, „das es niemals zuvor gegeben hat: eine globale kosmopolitische Gesellschaft“ (S. 31).
Große Hoffnungen setzt der Soziologe in die Veränderung der Geschlechterverhältnisse und die allmähliche Überwindung des Patriarchats. In von Offenheit und aktivem Vertrauen geprägten Beziehungen – eine gute Beziehung „beruht auf Kommunikation, daher ist das Verständnis für den Standpunkt des anderen von wesentlicher Bedeutung“ S. 80 – sieht der Autor „eine überraschende Parallele zum Modell der demokratischen Öffentlichkeit“ (ebd.). Er spricht von einer „Demokratie der Gefühle“ (S. 81), die für die Verbesserung unserer Lebensqualität ebenso wichtig sei wie die Existenz demokratischer öffentlicher Räume.
Das Aufkommen eines neuen politisch-religiösen Fundamentalismus - für Giddens der größte Widerpart im 21. Jahrhundert zu einer „kosmopolitischen Toleranz“ (S. 15) - sei eine Gegenreaktion auf die sozialen und politischen Emanzipationsbewegungen, die, bedingt durch die modernen Kommunikationsmittel, alle Regionen der Welt erfassen. Traditionen seien auch in Zukunft wichtig, „weil sie dem Leben Kontinuität und Form verleihen“ (S. 60), in einer „enttraditionalisierten Gesellschaft“ bedürften diese aber der Begründung („einer großen Portion Rationalität.“ S. 61). Und das sei gut so. Die Ausbreitung des Suchtverhaltens in den westlichen Wohlstandsländern ist für den Soziologen übrigens Ausdruck des Misslingens von Freiheit und Selbstbestimmung.
Zuversichtlich ist der Autor schließlich auch hinsichtlich der weltweiten Ausbreitung der Demokratie. Dass die alten Demokratien zugleich in die Krise geraten (die Wahlbeteiligung ist überall im Sinken), ist für Giddens nicht Ausdruck von politischem Desinteresse, sondern ein Signal für die gestiegenen Ansprüche an die Politik (dazu vgl. auch Nr. 220 in dieser Ausgabe der PZ).
Neben einer wirksamen Dezentralisierung der Macht sei auch eine Transnationalisierung der Politik notwendig. Den Grund dafür sieht Giddens in der „globalen Risikogesellschaft“, in der wir heute leben. Als Beispiele nennt er die Erwärmung der Erdatmosphäre und die Ausbreitung gentechnisch veränderter Lebensmittel. Beides erfordere Entscheidungen in Unsicherheit. Panikmache sei unter Umständen nötig, „um drohende Risiken zu mindern“ (S. 43), andererseits sei das „Vorbeugeprinzip“ nicht immer hilfreich und auch nicht durchsetzbar (im Falle gentechnisch veränderter Lebensmittel könnten damit auch neue Lösungen zur Ernährung der Weltbevölkerung verbaut werden). der Autor fordert auch hier eine offensive und krontroverse öffentliche Diskussion.
Toleranz und Dialog sind für Giddens die Basis einer zivilen Weltgesellschaft; diese bräuchten aber „Werte von universeller Natur“ – die Menschenrechte als „kosmopolitische Moral“ (S. 67). Was derzeit passiere, sei keineswegs „die von einem kollektiven Willen gesteuerte Herausbildung einer Weltordnung“, sondern vielmehr eine „anarchische, ungeregelte Entwicklung, die von einer Vielzahl von Einflüssen vorangetrieben wird“ (S. 31) – eben eine „entfesselte Welt“. Der Autor zeigt aber an Emanzipation und Selbstbestimmung der BürgerInnen orientierte soziale und politische Zukunftsräume auf, die sich wohltuend von pessimistischen und defaitistischen Untergangsszenarien unterscheiden. Giddens blendet die häßlichen Seiten der gegenwärtigen Welt wohl etwas aus aber dennoch: Seine Ausführungen machen Mut. H. H.
Giddens, Anthony: Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert. Frankfurt: Suhrkamp, 2001. 115 S., DM 16,90 / sFr 16,- / öS 123,-