Der Sammelband der Herausgeberinnen Barbara Peveling und Nikola Richter zeigt die Vielstimmigkeit heutiger Elternschaft auf. In drei Abschnitte gegliedert, schreiben Autorinnen und Autoren aus verschiedensten Perspektiven über die Zeit des Pläne machens, über die neun Monate der Schwangerschaft, über das Zusammenleben. Was bedeutet es heute, Kinder zu kriegen? Wie definiert sich der Körper neu, angesichts gesellschaftlicher und technischer Entwicklungen wie Egg-Freezing, Leihmutterschaft, Fertilitätsbehandlung, etc. und welche Rollen werden der Frau, dem Mann, den Eltern zugeschrieben? Vor dem Hintergrund von Corona, der Klimakatastrophe oder der Digitalisierung sind manche der Fragen auf eine neue Dimension gehoben. Wie weit greifen der Staat und der öffentliche Diskurs in die Erziehung, aber auch in die Körper selbst ein, wenn es um Homeschooling oder Kitadauerbetreuung geht? Wie kann man die Verantwortlichkeit bei der Reproduktion sehen, wenn man einerseits auf das Recht schaut, die eigenen Gene weiterzugeben, und andererseits auf die zerstörerischen Effekte des Anthropozäns? Peveling: „Wie kann man im Gesamtkontext der Reproduktion Fortschritt mit positiver Lebensqualität verbinden?“ (S. 6) Und: Wer reproduziert sich – Einzelpersonen, gleichgeschlechtliche Paare, ältere oder beeinträchtigte Menschen? Was verändert sich bei den Grundlagen: Welche ökonomischen, sozialen, lokalen Gegebenheiten unterstützen oder erschweren Reproduktion? So wichtig es ist, dass es die vielen Rechte für die Einzelnen gibt – wie das Recht, selbst entscheiden zu dürfen, ob oder wann man schwanger werden möchte oder nicht, das Recht, den Kinderwunsch mithilfe der Medizin zu erfüllen, das Recht auf pränatale Diagnostik oder auf diese zu verzichten, das Recht auf Unterstützung bei der Erziehung von Kindern mit Behinderung, etc., – so wichtig ist es, sich auch gesellschaftlich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Die Texte sind biografisch gestaltet, weil jede Situation sehr unterschiedlich ist. Es wird sichtbar, wie viel Liebe, Mut und Weisheit in jeder Erfahrung stecken, aber auch, „wie sehr wir von außen und anderen geprägt werden und wie schwierig es ist, diese Wege anders zu gehen, als man selbst und andere gedacht haben.“ (S. 9) Und trotzdem hat jede Einzelentscheidung die Kraft, die Normen zu verändern und der nachfolgenden Generation weitere Schritte zu ermöglichen.
Eine lange Reise ohne Gewissheiten
Berit Glanz erzählt in „Splitterstücke“ von ihrer Schwangerschaftserfahrung. Auf der einen Seite waren da zuvor die aufdringlichen Fragen nach dem Thema Kind, die die Frau auf ihre Gebärfähigkeit reduzieren; auf der anderen Seite wurde ihre Person als Schwangere unsichtbar für die anderen, und ihre Körperlichkeit vorrangig. Diese Körperlichkeit wurde allseits kontrolliert, alles exakt geplant, die unangenehmen Realitäten, wie die Möglichkeit von Krankheit und Tod, jedoch ausgeblendet. Als eines ihrer Zwillinge wenige Wochen vor der Geburt stirbt, fühlt sie sich deshalb mit all ihren Empfindungen alleingelassen. Ihren Köper sieht sie erstmals in seiner Fehlbarkeit, und auch nach der Geburt bleibt ihr Vertrauen in das Leben selbst erschüttert. Ist es da richtig, die Geschichte vom Kinderkriegen mit solcher Leichtigkeit zu erzählen, wie es die Gesellschaft tut? Sollte nicht darüber gesprochen werden, dass die Realität eine lange Reise ohne Gewissheiten ist, die nicht nur ins Glück, sondern auch in die Ziellosigkeit oder an fremde Orte führen kann?
Glücksphasen und Schwierigkeiten
In „Der Besuch“ sieht sich auch der werdende Vater Veit Johannes Schmidinger Tabus und Sorgen gegenüber, als er mit seinem Mann seinen Kinderwunsch organisiert und darauf besteht, die Leihmutter persönlich zu treffen. Mit dem Kinderwunsch der geistig behinderten Nichte der Autorin Martine Lombard entfaltet sich in der Erzählung „Scherbenglas“ eine Reihe ungeahnter Möglichkeiten, Glücksphasen, aber auch Schwierigkeiten, mit denen niemand gerechnet hatte. Lise wird von ihren Großeltern liebevoll umsorgt, aber auch eingeengt. Als sie, trotz deren Abraten, schwanger wird, sagt sie sich von ihnen los. Doch sie kann sich nicht dauerhaft von Bevormundung befreien, und bleibt gefangen zwischen den Abhängigkeiten von Betreuerinnen, Ämtern und später ihrem Ehemann, der seine Schutzfunktion wiederum nicht einlöst.
Ermutigung, um Tabus zu überdenken und Gespräche zu beginnen
In vielen Texten zeigt sich, dass trotz aller Fortschritte und positivem Einsatz der Männer, die Frauen in der Reproduktion und ihren Folgen vielfach einsam sind. Während der Körper kontrolliert und verwaltet wird, bleibt die Mutter mit ihrem Kind alleine. Die Texte ermutigen, Tabus zu überdenken, und Gespräche zu beginnen, über das, worüber sonst geschwiegen wird. Das Buch ist voll erstaunlicher Sichtweisen und Themen, die bislang Unhinterfragtes aufdecken und neue Türen im öffentlichen Diskurs aufstoßen.