Wolfgang Streeck

Zwischen Globalismus und Demokratie

Ausgabe: 2021 | 4
Zwischen Globalismus und Demokratie

Dem Bretton-Woods-System mit den USA als Hegemon und sich von den Verwüstungen des Weltkriegs erholenden Nationalstaaten bei gleichzeitigem Einstieg in eine wirtschaftliche Prosperitätsphase nach 1945 folgte in den 1970er-Jahren ein Globalisierungsschub mit der Auslagerung vieler Industrieproduktionen in die damaligen Peripherien des Kapitalismus sowie nach China. Mit der Deregulierung der Finanzmärkte ab den 1990-Jahren traten wir ein in die Phase der „Hyperglobalisierung“. So die historische Abfolge seit Ende des Zweiten Weltkriegs, die Wolfgang Streeck wohl mit vielen anderen Sozialwissenschaftler:innen teilt. Und auch, dass dieser Übergang einherging mit dem scheinbaren Siegeszug des Neoliberalismus, dem Versprechen auf Wohlstand für alle (nicht nur für die reichen OECD-Staaten), wenn nur die nationalstaatlichen Grenzen gesprengt und sich der Kapitalismus entfalten könne. Streeck setzt eins drauf, wenn er nun von einem „postneoliberalen Patt“ spricht – ein Begriff, der auf den über 500 Seiten des Buches immer wiederkehrt. Was ist damit gemeint? Die Erosion des umverteilenden Wohlfahrtsstaats, die taumelnden Volksparteien, die ursprünglich zumindest ansatzweise für den Ausgleich zwischen den Interessen des Kapitals und der Arbeitnehmer:innen sorgten, schrumpfende Gewerkschaften sowie grassierende Zweifel an der Leistungsfähigkeit demokratischer Institutionen hätten dazu geführt, dass die Globalisierungseuphorie ins Stocken geriet, so Streeck. Die Finanzkrise 2008 habe hier noch eins draufgesetzt, die Pandemie werde den Siegeszug des entfesselten Kapitalismus weiter bremsen, ja womöglich zum Stoppen bringen. Als Belege führt Streeck Bewegungen wie die Gelbwesten sowie neue Parteien an den Rändern des politischen Spektrums ebenso an wie den Brexit. Längst habe in vielen Ländern ein Tauziehen um die politische Ordnung begonnen, welches die Gesellschaften zu zerreißen droht.

Kritik an liberaler Geldpolitik

Streeck kritisiert die von liberalen Ökonom:innen neuerdings propagierte Idee, dass eine lockere Geldpolitik durch die Zentralbanken zu neuem Wachstum führe. Hohe Staatsschulden würden Staaten immer in die Abhängigkeit der Finanzmärkte treiben, warnt er wie schon in seinem letzten Buch Gekaufte Zeit. Mit Keynesianismus habe die permanent wachsende Staatverschuldung nichts zu tun, da Keynes zyklisch in Konjunkturphasen dachte, das heißt, dass der Staat nach der wirtschaftlichen Erholung die Schulden wieder zurückfahren müsse. Streeck kritisiert auch die EU sowie die Währungsunion, die für ihn Vollstrecker des Neoliberalismus seien. Er spricht von einem „liberalen Empire“ mit Deutschland und Frankreich im Zentrum und dem Versuch, die politischen Eliten der Staaten an der Peripherie mit Zugeständnissen bei der Stange zu halten. Die USA würden sich als Welthegemon zurückziehen, um das eigene Land wieder flott zu kriegen, China werde wirtschaftlich weiterwachsen, habe aber keine imperialistischen Avancen. Und Europa zu einer Großmacht zu machen, werde scheitern, weil Frankreich seinen singulären Atomstatus nicht aufgeben, Deutschland auf lange Sicht seine Transferzahlungen nicht fortführen werde.

Für eine Renaissance des Nationalstaats

Streeck plädiert daher für eine Renaissance des Nationalstaats – er spricht von „Kleinstaaterei“ in einer „polyzentrischen Weltordnung“ – und setzt auf Deglobalisierung. Er zitiert dafür zahlreiche Autoren, die ihn bestätigen würden: von dem Globalisierungskritiker Walden Bello über den Globalisierungsskeptiker Dani Rodrick bis zum kommunitaristischen Denker Amitai Etzioni. Als zentrale Bezugspunkte gelten Streeck ein Aufsatz von Keynes aus den 1930er-Jahren, in dem dieser souveräne, miteinander kooperierende Nationalstaaten mit eigener Währungsautonomie vorschlägt (ein Vorläufer des von Keynes wesentlich mitbestimmten Bretton Woods-Systems), sowie ein Beitrag von Karl Polanyi aus 1945, der für eine „regionale Planung“ unter gleichberechtigten Staaten eintritt („Universal Capitalism oder Regional Planning?“). Streeck nennt seinen Zukunftsentwurf daher einen „Keynes-Polanyi-Staat“, der national, souverän und demokratisch sei. Demokratie sei nur in überschaubaren politischen Gebilden möglich und Komplexität besser in überschaubaren Subsystemen zu realisieren, so Streeck in Anlehnung an den Komplexitätsforscher Herbert A. Simon. Die heutige „Regierbarkeitskrise“ (S. 329) erfordere Dezentralisierung und Deglobalisierung. Auch Herausforderungen wie der Klimawandel würden nur gelöst werden können, wenn man Mehrheiten in der eigenen Bevölkerung dafür bekomme, woran Obamas Klimapolitik gescheitert sei. Streeck setzt hier auf kulturelle Erneuerungsbewegungen sowie einen „moralischen race to the top“ (S. 488), indem Staaten miteinander um die besten Lösungen wetteifern.

Es bleibt bei einem Suchprozess

Streeck versucht einen holistischen Wurf einer neuen Weltordnung jenseits der Globalisierung von vielen kleineren und mittleren Staaten. Er zitiert dafür zahlreiche Belege insbesondere aus der neueren englischsprachigen Literatur, zu Hilfe nimmt er auch Trends wie die mögliche Rückverlagerung von Industrien durch die Digitalisierung. Unklar bleibt, wie die Umgestaltung konkret angegangen werden sollte. Wie komplex die Welt geworden ist, hat Ulrich Beck mit der Weltrisikogesellschaft bereits früh dargelegt. Streeck plädiert für einen Suchprozess – und belässt es dabei. Problematisch ist die pauschale Verurteilung aller Bemühungen der Europäischen Union, etwa im Bereich des wirtschaftlichen Ausgleichs, der Besteuerung von multinationalen Konzernen oder der Umwelt- und Klimapolitik. Außen vor gelassen werden die Gefahren, die auch im Nationalismus stecken, wie wir aus der Geschichte wissen. Unbestritten bleibt, dass – Klimapolitik wirklich ernst genommen – eine völlige Dekarbonisierung unseres Wirtschaftens nötig sein wird, was zwangsweise auch eine Dezentralisierung und eine Fokussierung auf Grundbedürfnisse bedeuten wird. Und weiter zu diskutieren bleibt, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt und friedliche Koexistenz am besten zu organisieren sind. Denn Imperien neigen immer zu Überdehnung und Militarisierung, wie die weltweit wieder bedrohlich wachsenden Rüstungsetats zeigen.