Die Zukunft des Sozialstaats

Ausgabe: 2004 | 2

Die Notwendigkeit einer Adaptierung des (deutschen) Sozialstaats an die neuen ökonomischen (Dienstleistungswirtschaft) und demografischen Bedingungen (Alternde Gesellschaft) wird von kaum jemandem in Frage gestellt. In den öffentlichen Debatten über das Wie dominieren freilich häufig vereinfachende Sichtweisen ("Weniger Staat" sei die Lösung, sagen die einen, vor dem "Abbau des Sozialstaats" warnen die anderen). Das vorliegende Buch leistet einen wertvollen Beitrag zur Versachlichung der Debatte sowie zur Neuorientierung in einem beschleunigten Prozess des Wandels. Und zwar in einem doppelten Sinn: Die Annäherung über 50 Stichworte von "Alter" und "Arbeit" über "Markt" und "Menschenwürde" bis "Wohlfahrt" und "Zuwanderung", denen jeweils pointierte Essays (von 3-5 Seiten) gewidmet sind, garantiert eine umfassende Beleuchtung des Themas. Verfasst werden die Kapitel - das gewährt auch Vielfalt - von Personen mit unterschiedlichem beruflichen Hintergrund und auch unterschiedlicher weltanschaulicher Akzentuierung. So findet man Beiträge von WissenschaftlerInnen wie Friedhelm Hengsbach (er macht in brillanter Weise deutlich, dass uns die Arbeit nicht ausgeht, vielmehr in der kulturellen Dienstleistungsgesellschaft als "Arbeit am Menschen" an Qualität gewinnen wird), dem Sozialexperten Ernst-Ulrich Huster (Kapitel "Armut") und Richard Hauser (Kapitel "Reichtum"), die wichtige Fakten zur deutschen Verteilungswirklichkeit beisteuern, oder Horst W. Opaschowski, der einem durchaus positiven "Wertewandel" der jungen Generation entgegen sieht ("Sie will in einer ausgeglichenen Balance zwischen Leistungs-, Genussund Sozialorientierung leben"). Wichtig sind auch grundsätzliche Überlegungen wie jene des Schweizer Philosophen Michael Schefzyk, der anhand des Stichworts "Autonomie" daran erinnert, dass es nicht nur Rechte und Ansprüche, sondern auch Pflichten gibt. Oder jene des Theologen Peter Hünermann, der von der Zivilgesellschaft "Widerstand" (so sein Stichwort) gegen die schleichende Entdemokratisierung der Gesellschaft (finanzielle Aushungerung von Kommunen, "Lobbyherrschaft", die Randgruppen ausgrenzt) einfordert. Vertreten sind aber auch PolitikerInnen unterschiedlicher Couleur. So schreibt Bundesministerin Renate Schmidt über "Familie", CDU-Vorsitzende Angela Merkel über "Freiheit", Jürgen Trittin über "Umwelt" und Heiner Geißler über "Sozialstaat" (u. a. mit einem Plädoyer für das Schweizer Modell einer Volksversicherung, das alle Arten von Einkommen zur Finanzierung heranzieht, auch Kapitalerträge, Sitzungsgelder, Mieteinnahmen...). Zu Wort kommen aber auch Kirchenvertreter wie Bischof Lehmann ("Sonntag") oder Bischof Homeyer, der in seinem bedenkenswerten Beitrag über "Solidarität" für eine Ausweitung des Begriffs der Sozialpolitik und des blockierenden korporatistischen deutschen Politiksystems plädiert. Wertvoll machen dieses Lesebuch in Sachen "Sozialstaat" nicht zuletzt die Beiträge von Praktikern, vornehmlich des für die Herausgabe verantwortlich zeichnenden "Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge", die Themen wie Gesundheit, Soziale Dienste oder Sozialhilfe (Konrad Deufel tritt vehement für deren Entstigmatisierung ein) abdecken. Die wohl unterschiedlich akzentuierten, aber in keinem Fall polemisierenden Beiträge machen deutlich, dass "nachhaltige Sicherheit in einer Gesellschaft vor allem durch soziale Stabilität entsteht" (Karl von Wogau), es daher ein großer Fehler wäre, den Sozialstaat gering zu achten und als Begriff von gestern abzutun. Das Buch ist zugleich einen Beleg dafür, dass Politik auch als sachbezogenes Abwägen von Standpunkten möglich wäre. H. H.

Ende der Solidarität? Die Zukunft des Sozialstaats. Hrsg. v. Konrad Deufel ... Freiburg (u. a.): Herder, 2003. 336 S., € 14,90 [D], 15,40 [A], sFr 26,80 ISBN 3-451-20402-9