Selbstsorge in unsicheren Zeiten

Ausgabe: 2009 | 3

Unter welchen inneren und äußeren Bedingungen kann es Menschen gelingen, auch in Zeiten der Unsicherheit ihren Anspruch auf eigenverantwortliches Handeln zu behaupten? Dieser Frage ging ein Forschungsteam an der Universität Kassel über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren in einer Reihe empirischer Studien nach und hat nun mit dem Buch „Selbstsorge in unsicheren Zeiten. Resignieren oder Gestalten“ die wichtigsten Ergebnisse veröffentlicht.

 

Eines davon lautet: Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen tatsächlicher und empfundener Unsicherheit. Als wie prekär die jeweilige Lebenslage wahrgenommen wird, hängt nicht nur davon ab, wie fragil sie tatsächlich ist – z. B. gemessen an der gesundheitlichen, privaten oder beruflichen Situation. Entscheidend sind auch psychologische Merkmale wie etwa Zukunftsvertrauen oder die Fähigkeit, die Entwicklungen in der Umwelt als ein stimmiges Ganzes interpretieren zu können.

 

Die Unterscheidung zwischen tatsächlicher und „gefühlter“ Unsicherheit ist vielleicht nicht neu. Dem Forschungsteam gelingt es jedoch, auf der Basis der empirischen Befunde ein Wirkungsmodell zu entwickeln, das die relevantesten Einflussfaktoren zueinander in Beziehung setzt. So entsteht ein detailliertes Bild der Wechselwirkungen zwischen den individuellen Kompetenzen, dem Vertrauen in Institutionen, der Bewertung der eigenen Lage, evtl. psychosomatischen Beschwerden und anderen Faktoren mehr.

 

 

 

Gestaltung in Gang setzen

 

Darin eingebettet ist auch das Konstrukt der individuellen Selbstsorge, das unter anderem beschreibt, wie sehr die jeweilige Person auf die eigene Wohnung, auf die Ernährung, den Freundeskreis oder die eigene Gesundheit achtet. Auch die Bereitschaft, sich neue Qualifikationen und Kompetenzen anzueignen ist damit beschrieben. Letztlich meint Selbstsorge das Ausmaß, in dem sich Menschen als ihres eigenen Glückes Schmied begreifen und diese Aufgabe der individuellen Lebensgestaltung aktiv angehen. „Empowerment, das In-Gang-Setzen einer Dynamik, die eine eigenverantwortliche Gestaltung des eigenen Schicksals ermöglicht und Ressourcen schafft […] wird damit zu einem heiklen Unterfangen, das oftmals […] voraussetzt, was am Ende erreicht werden soll.“ (S. 60)

 

Interessant sind die in diesem Kontext erzielten Ergebnisse im Zusammenhang mit der Diskussion um den „aktivierenden Sozialstaat“. Die Befunde deuten darauf hin, dass die mangelnde Fähigkeit zur Selbstsorge bei den betroffenen Personen nicht nur Auslöser, sondern auch Folge von prekären Lebenssituationen ist. „Daraus folgt, dass im Falle eines unzureichenden Handlungsvermögens wie auch im Falle der Existenz externer Restriktionen zur Mobilisierung desselben dem Adressaten der ‚aktivierenden Hilfe’ eine Aufforderung zur eigenen Initiative als grotesk erscheinen muss und von ihm als eine – unter Umständen sogar repressiv aufgenötigte – Form der Fremdbestimmung und Disziplinierung erlebt wird.“ (S. 171).

 

 

 

Stringente Studienergebnisse

 

Neben diesem und anderen Ergebnissen ist auch die methodische Vorgehensweise bemerkenswert, denn die Fragestellung wurde in insgesamt fünf verschiedenen, aufeinander aufbauenden Teilstudien bearbeitet. In vier Studien arbeitete das Forschungsteam mit Telefoninterviews und stellte an jeweils mindestens 1000 Personen Fragen zu Unsicherheitsthemen, Ausprägungen des eigenverantwortlichen Handelns oder zum Ausmaß des individuellen Exklusionsempfindens. In einer weiteren Studie standen individuelle Bewältigungsstrategien im Mittelpunkt des Interesses, wobei qualitativ ausgerichtete Interviews zum Einsatz kamen. Die Ergebnisse werden in verschiedener Hinsicht ausgewertet – beispielsweise in Form von Typologien, die anhand aussagekräftiger Merkmalsausprägungen der befragten Personen gebildet wurden. So lässt sich z.B. nachlesen, welche soziodemografischen Merkmale der typische „Schwarzmaler“, der typische „Schönfärber“ oder der „positive Realist“, der seine privilegierte Position auch als solche erkennt, aufweist.

 

Bei dem gesamten Buch fällt positiv auf, dass es sich bei den Zielsetzungen, Fragestellungen und den verschiedenen Formen der Ergebnisauswertung am Individuum und seiner gesellschaftlichen Realität orientiert. Die anspruchsvolle Aufgabenstellung und die zum Teil sehr aufwändige Methodik führen zu wissenschaftlich relevanten Ergebnissen – diese haben einen konkreten Realitätsbezug, weshalb das Buch nicht nur für Soziologen, Psychologen oder Sozialarbeiter zu empfehlen ist, sondern auch für eine breitere Leserschaft. E. Sch.

 

Selbstsorge in unsicheren Zeiten. Resignieren oder Gestalten. Ernst-Dieter Lantermann … (Mitarb.).  Weinheim (u. a.): Beltz-Verl., 2009. 190 S., € 29,95 [D], 30,85 [A], sFr 52,40; ISBN 978-3-621-27620-7