Die unsichtbare Dimension

Ausgabe: 2012 | 1

Nachhaltigkeit sei ein wesentlicher Aspekt des Kulturellen, die Rede von „kultureller Nachhaltigkeit“ mache daher so wenig Sinn wie von „weißen Schimmeln“ zu sprechen, so die Kulturhistorikerin Gabriele Sorgo, Herausgeberin eines vielschichtigen Bandes über Kultur und Nachhaltigkeit. „Nachhaltig“ habe ursprünglich einfach bedeutet „von langer Dauer“ und „langer Wirkung“, wozu auch „angesammelte Wissensvorräte“ und „sedimentierte Erfahrungen“ zählen, sei im Kontext der Ökologie jedoch auf Materielles eingeschränkt worden, so Sorgo folgerichtig, die eine sehr schöne Definition von „nachhaltigem Handeln“ gibt: Dieses meine, „dass das Handeln, die Ausschöpfung und Abschöpfung der Ressour- cen, weder unabänderliche Spuren der Schädigung oder der Erschöpfung hinterlässt noch weiter eingräbt, sondern dass die Quellen des Reichtums in ihrer Vitalität für die Nachwelt erhalten bleiben“ (S. 9). Ziel nachhaltigen Ressourcengebrauchs sei daher, dass die Nutzung andauern kann und „dass die Menschen ihrer Lebensweise durch die auf Ausgleich angelegte Nutzung Dauer verleihen können“ (ebd.).

 

Doch nicht um die Berechnung von Ressourcengrenzen, ökologischen Fußabdrücken oder Einsparpotenzialen geht es in den Beiträgen des Bandes, sondern um verschiedene Aspekte des „Kulturellen“ im Kontext von nachhaltiger Entwicklung. Das Buch ist der lobenswerte Versuch, die Kulturwissenschaften für die Nachhaltigkeitsdebatte (und im engeren Sinn auch für Konzepte von Nachhaltigkeitsbildung) fruchtbar zu machen. Gefolgt wird dabei einem Kulturverständnis, das – so Verena Holz und Ute Stoltenberg in ihrem einführenden Beitrag – „nach Wissensordnungen fragt, die die individuelle und gesellschaftliche Praxis strukturieren“. Bildung müsse sich in diesem Sinne der Aufgabe stellen, „wie man Menschen bewegen kann, sich mit sich selbst und ihrer Zukunft zu beschäftigen“. „Nachhaltigkeitsfragen als Lebensfragen statt als akademische, politische oder Schulfragen“ zu erkennen, sei der einzig mögliche Weg „zu eigenem Engagement und Partizipation an der Gestaltung einer nachhaltigen Entwicklung“ (S. 18f.).

 

Hoch ist der Anspruch auch von Jörg Zirfas, der über ästhetische Bildung referiert und diese als „Bildung der Empfindsamkeit gegenüber Mensch und Natur, als Entwicklung der Einbildungskraft, des Geschmacks und des Genusses, als Befähigung zu Spiel und Geselligkeit, zur ästhetischen Urteilskraft und Kritik, als Erschließung von (neuen) Ausdrucksformen und Handlungsperspektiven, als Vermittlung von Verstand und Gemüt, Expressivität und Regelgeleitetheit oder auch als Idee einer (utopischen) Zivilisierung des Lebens“ (S. 36) begreift. Wesentlich erscheinen Zirfas die viel stärkere Berücksichtigung von Zukunftsperspektiven ohne dabei den Umgang mit Kontingenz, also Unsicherheit und Unplanbarkeit zu vernachlässigen.

 

 

 

Infantilisierung der Erwachsenenwelt

 

Mehrfach thematisiert wird die Frage des Verhältnisses von Tradition und Erneuerung, altem Wissen und Veränderung. Johannes Bilstein reflektiert die Beziehung zwischen den Generationen. Er unterscheidet dabei mit Margret Mead traditionale Gesellschaftsformen von Kulturen, in denen sich Jung und Alt ebenbürtig in einer sich wandelnden Welt gegenüber stehen (datiert etwa auf die 1960er-Jahre). Gegenwärtig würden wir jedoch in einen derart beschleunigten Wandel eintreten, „dass schon einer Generation immer neue Anpassungsleistungen an immer schneller veränderte Lebensbedingungen abverlangt werden“, was auf Erfahrungen von „moderner Bodenlosigkeit“ (s. PZ 2011/3) verweist. Jugend werde nun, so Bilstein, zum „Leitbild der gesamten Gesellschaft“, was auch mit einer „Infantilisierung der Erwachsenenwelt“ einhergehe. Und doch ist für den Autor nicht ausgemacht, was es in der Tat wert ist, tradiert zu werden. Am Bild der Fackel, die weitergegeben wird, meint er, ob nicht in vielen Fällen die Fackel selbst zum Problem geworden sei: „Vielleicht wird es zum entscheidenden Akt der Nachhaltigkeit, bestimmte Fackeln – z. B. die Angewohnheiten eines besinnungslosen Konsumerismus – gerade nicht mehr weiterzugeben.“ (S. 92)

 

Harald Katzmair nimmt Bezug auf die Zyklentheorie von Systemen, die zwischen Wachstum bzw. Verausgabung, Verlangsamung und Reife, Zusammenbruch und erneuter Reorganisation wechselten. Ein starres Knappheitsdenken würde Nachhaltigkeit ein zu enges Korsett aufzwingen, vielmehr gehe es um Resilienz, so der Autor, der jedoch warnt, dass ein System „krank und zerstörerisch“ wird, wenn es – wie unsere derzeitige Ökonomie – „wachsen muss, gar nicht anders kann als zu wachsen und sich eben nicht mehr in Zyklen der Erneuerung, die immer auch Zyklen einer unterschiedlichen Produktions- und Konsumtionsrate sind, eintaktet“ (S. 170).

 

Weitere Beiträge widmen sich den Chancen kritischen Konsums und der „Be-Deutungsmacht“ von KonsumentInnen (Rainer Gries), der Bedeutung des Scheitern-Könnens (Sabina Aydt), den Möglichkeiten von Theaterpädagogik (Ute Pinkert), dem Ansetzen bei den alltäglichen Lebenspraktiken der Menschen wie Wohnen, Sich-Ernähren (Karl H. Hörning macht hierfür die „Theorie sozialer Praktiken“ fruchtbar) oder gar der Rolle, der Sexualpädagogik in der Nachhaltigkeit zukommen könne. Sarah Maria Maresh macht sich dabei nicht nur Gedanken, welche Verhütungsmittel am wenigsten Müll erzeugen – Kondom, Diaphragma oder die tantrische Kunst der Ejakulation nach innen! –, sondern wie Parallelen zwischen emanzipatorischer Sexualpädagogik und Nachhaltigkeitsbildung genutzt werden könnten. Die „Fähigkeit ja sagen zu können zu dem, was einem oder einer gefällt“ sei demnach entscheidend dafür, auch Nein sagen zu können. Oder anders formuliert: „Nur wer den eigenen Körper fühlt, kann Grenzen und Grenzüberschreitungen leichter wahrnehmen.“ (S. 188) Bezogen auf Nachhaltigkeit würde die Fähigkeit zur Begrenzung dann das Sich –Selber-Spüren  zur Voraussetzung haben.

 

 

 

Vom Wissen zum Handeln

 

Eine entscheidende Frage stellt schließlich nochmals die Herausgeberin, nämlich „warum wir nicht anders handeln, obwohl wir es besser wissen“. Die Antwort findet sie im „Konsumdispositiv“, welches es Menschen nahelege, „alle ihre Bedürfnisse, materielle ebenso wie soziale und emotionale über die Angebote des derzeit vorherrschenden, profitorientierten Marktsystems befriedigen zu wollen.“ (S. 116) Oder anders ausgedrückt: Der Appell an Menschen, die in Konsumkulturen leben, ihren Konsum einzuschränken, sei in etwa mit der Aufforderung vergleichbar, mit dem Atmen aufzuhören. Der ökologische oder nachhaltige Konsum könne in diesem Sinne dann davon abhalten, sich politisch für einen Wandel der Konsumkultur zu engagieren: „Denn etwas Gutes tun heißt dann weiterhin nur einkaufen.“ (S. 118) Es finde keine „systemische Reflexion“ statt, so Sorgo, die jedoch auch vor der begrenzten Wirkung von noch mehr Information warnt. Vielmehr wäre es Aufgabe einer Bildung für nachhaltige Entwicklung, Mythen zu dechiffrieren und etwa zu zeigen, „dass das heldenhafte autonome Individuum über weite Strecken gewaltige Verzichtsleistungen in emotionalen Bereichen auf sich nimmt“ (S. 124). Das, was im Konsumdispositiv als „Verzichtsleistung“ verstanden wird, könnte sich somit in etwas Positives verwandeln und als „freudiges Geben“ erfahren werden. Umweltprobleme mit dem Kauf der „richtigen“ Produkte lösen zu wollen, stelle demnach nur die erste Reaktion auf die Erkenntnis dar, „dass es so nicht weitergehen kann.“ (S. 124)

 

Auf ein anderes Handeln nehmen schließlich zwei in den Band aufgenommene Interviews der Herausgeberin Bezug. Der Psychoanalytiker Felix de Mendelssohn geht davon aus, dass „Nachhaltigkeitsbestrebungen erst durch viel Leidensdruck umgesetzt werden können“ und dass zweitens hierfür auch „Sanktionen und Regierungsgewalt“ (S. 95f) nötig sein werden.

 

„Es wird uns nicht freuen, denn wir werden auf Dinge verzichten müssen und vielleicht gar nicht wissen warum. Aber ich fürchte, es wird nur über diesen Weg gehen.“ (S. 102). Martina Kaller, Expertin für Globalgeschichte mit Schwerpunkt Ernährung, plädiert dafür, nicht über das richtige Ernährungsverhalten zu dozieren, sondern über die Produktionsbedingungen von Lebensmittel zu diskutieren. Zudem gehe es ums Selber-Tun, was für mehr Kochunterricht in der Schule spräche.

 

Zugegeben: Ich war zunächst skeptisch, ob wir ein weiteres Buch über die „Kultur der Nachhaltigkeit“ brauchen, wenn es doch mehr als ansteht, diese endlich in verbindliches Recht zu gießen, was vielmehr nach einer „Politik der Nachhaltigkeit“ verlangt. Die Lektüre hat mich aber gelehrt, dass die Kulturwissenschaften, vor allem wenn sie, wie hier, weit über Appelle zu einem nachhaltigen Lebensstil hinausweisen, essenziell zum Verstehen dessen beitragen können, warum Nachhaltigkeit noch immer scheitert und – vielleicht auch – wie sie gelingen könnte. H. H.

 

 

 

 Die unsichtbare Dimension. Bildung für nachhaltige Entwicklung im kulturellen Prozess. Hrsg. v. Gabriele Sorgo. Wien: Umwelt & Bildung 2011. 192 S.,  € 14,- (D, A] sFr 23,80 ; ISBN 978-3-900717-68-1

 

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