Hadija Haruna-Oelker

Die Schönheit der Differenz

Ausgabe: 2022 | 4
Die Schönheit der Differenz

„Ich bin eine Schwarze, nicht behinderte, normschlanke, cis-hetero Frau mit der Erfahrung, chronisch krank zu sein.“ (S. 10) Schreibt Hadija Haruna-Oelker gleich auf den ersten Seiten ihres Buches. Zugleich ist sie Mutter, Ehefrau, Tochter, Schwester, Feministin, Menschenrechtlerin, Autorin, Übersetzerin und mehrfach ausgezeichnete Journalistin. Bedeutsam ist diese Vorstellung ihrer Person in mehrerlei Hinsicht. Zum einen zeigt sie, wie differenziert die Facetten einer Person heute ausgedrückt, wahrgenommen und codiert werden. Zweitens kennzeichnet die Einführung der Autorin die Erzählperspektive ihres Buches: Es ist in der Ichform und radikal aus der Sicht der Autorin geschrieben. Sie erzählt darin, wie sie „unsere Gesellschaft und ihre Menschen in ihrer Differenz“ sieht (S. 12). Es sind ihre Wahrnehmungen, Erfahrungen, Erkenntnisse, die zu einem Bild unserer Gesellschaft verdichtet werden – einer Gesellschaft, die zunehmend mit Identitätsfragen zu tun hat. Nicht zuletzt steckt in diesem Zitat eine gewichtige inhaltliche Aussage: Unsere Persönlichkeit setzt sich aus vielen Ichs zusammen, Menschen tragen viele Identitäten in sich – die Vorstellung einer in sich geschlossenen Identität ist somit eine Illusion.

Ein Versuch, Blicke zu weiten

Und das ist exakt das Thema, über das Haruna-Oelker schreibt. Sie will „Vorstellungen starrer Kategorien und Konstruktionen aufbrechen, in die wir Menschen als Gruppen gepresst werden“ (S. 18). Sie will die Blicke weiten, Möglichkeiten aufzeigen und Handlungsräume eröffnen, „um ein anderes Miteinander zu denken“ – ein „Miteinander füreinander“ (S. 17, 262). Ihr Buch wendet sich „gegen polarisierendes Denken, Vereinfachungen oder die Vorstellung festgezurrter Gruppenidentitäten“ (S. 509). Es ist ein Plädoyer für radikale Diversität als „die Utopie einer Gesellschaft, in der alle Menschen in ihrer Differenz leben können“ (S. 504). Unsere gesellschaftliche Aufgabe in Zukunft sei, uns nicht nur damit auseinanderzusetzen, was uns verbindet (Identität), sondern auch mit dem, was uns unterscheidet (Differenz) – eine „Generationenaufgabe“ (S. 52).

„Wir sind unterschiedlich“, lautet eine zentrale Aussage des Buches (S. 109), und unterschiedlich sind auch die Themen, die dieses anspricht. In einer breiten Perspektive umreißt die Autorin die unterschiedlichen Kategorien, in die Menschen in unterschiedlicher Hinsicht eingeteilt werden. Sie beschreibt, wie diese zustande kommen – und wie sie verschwimmen, „weil kein Mensch eindeutig ist“ (S. 292). Eine auch nur kurz gehaltene Inhaltsangabe würde den Rahmen dieser Rezension sprengen. Wichtiger erscheint indes eine theoretische Einordnung dieser Sicht auf den Menschen.

Drei große Theorieblöcke sind es, auf die Haruna-Oelker ihren Differenzbegriff bezieht: Postkoloniale Studien, Gender Studies und Niklas Luhmanns Systemtheorie, die die funktionale Ausdifferenzierung als gesellschaftliches Strukturprinzip begreift. Diese Theorien bilden die Reflexionsfolie für Haruna-Oelkers Zustandsbeschreibung unserer Gesellschaft in ihrem Transformationsprozess hin zu wachsender Differenz. Zwei theoretische Konzepte insbesondere sind dabei von Bedeutung. Zum einen die Idee der Hybridität, die auf den postkolonialen Denker Homi K. Babha zurückgeht. Demzufolge leben Identitäten davon, so die Autorin, „sich dynamisch zu verändern, an verschiedenen Orten gleichzeitig und auch in Widersprüchen zu existieren“ (S. 269). Zum anderen der von Kimberlé Crenshaw entwickelte und von Emilia Roig weiterentwickelte Ansatz der Intersektionalität, der die Überlagerung und Gleichzeitigkeit von verschiedenen Diskriminierungskategorien beschreibt. „Es gibt also unterschiedliche Verwundbarkeiten, sie sind mehrdimensional und können sich in einem Menschen vereinen“, erläutert die Autorin (S. 133).

Ein dritter Bezugspunkt, weniger eine Theorie als vielmehr eine Praxis, ist die indigene Philosophie des Ubuntu, die unter dem Regime von Kolonialismus und Apartheid unterdrückt wurde und in der Anti-Apartheid-Bewegung und bei der Begründung des südafrikanischen Staates dann eine wichtige Rolle spielte. Prinzip des Ubuntu ist das Streben nach Übereinstimmung, um einen Weg für alle zu finden. Nicht die Unterschiede zu überwinden ist das Ziel, sondern sie zu akzeptieren, ohne die zugrundeliegenden Gegensätze aufzuheben. Entscheidend ist dabei, mit dem Gegenüber zusammenzuarbeiten und Lösungen zu finden – ein Verhandlungsraum, der für Hadija Haruna-Oelker ein Vorbild sein könnte, wie unsere Gesellschaft und öffentliche Räume gestaltet werden können. (S. 319ff.)

Plädoyer für ein intersektionales Denken

Das verlangt ein „intersektionales Denken“, das sich vor allem durch Empathie auszeichnet: „Wir müssen immer wieder versuchen, Menschen aus ihrer Position heraus zu verstehen und die Stimmen derjenigen zu erkennen und hörbar zu machen, die am verletzlichsten sind.“ (S. 336) Es bedeutet zu lernen, „miteinander füreinander zu fühlen“ (S. 262).