
Ray Kurzweil, eine der prägendsten Figuren im Bereich der Zukunftsforschung, legt mit seinem neuesten Werk, seine Vision einer fundamentalen Transformation der Menschheit dar. Der Titel „Die nächste Stufe der Evolution“ deutet bereits die weitreichenden Veränderungen an, die Kurzweil in naher Zukunft erwartet. Er bekräftigt im Buch seine früheren Thesen zur sogenannten Singularität und argumentiert, dass diese nicht nur weiterhin anhält, sondern sich möglicherweise sogar noch schneller realisieren wird als ursprünglich angenommen.
Der Konzept der Singularität
Kern von Kurzweils Überlegungen ist der Begriff der Singularität, den er aus der Mathematik und Physik entlehnt, hier aber in einem metaphorischen Sinn verwendet. Er nutzt diesen Terminus, um unsere gegenwärtige Unfähigkeit zu beschreiben, eine solch radikale Veränderung unseres Intelligenzniveaus zu begreifen. Gleichzeitig äußert er sich optimistisch, dass wir unsere Denkfähigkeiten ausreichend schnell erweitern werden, um uns an diese tiefgreifende Veränderung anpassen zu können, sobald sie eintritt. Kurzweil sieht die Menschheit mit hoher Geschwindigkeit auf dieses Ereignis zurasen.
Um die Entwicklung hin zur Singularität zu kontextualisieren, entwirft Kurzweil ein Modell von sechs Stufen auf dem Weg zur Entwicklung des Bewusstseins. Die erste Epoche war die Entstehung der physikalischen Gesetze, die die Grundlage für die Bildung von Molekülen aus Atomen schuf (Stufe 2). Daraus konnten im dritten Stadium durch ihre DNA definierte Tiere entstehen, gefolgt im vierten Stadium vom Menschen. Die fünfte Epoche sieht Kurzweil in der unmittelbaren Verbindung unserer biologischen Intelligenz mit der Geschwindigkeit und Rechenleistung unserer digitalen Technologie über Gehirn-Computer-Schnittstellen. Die sechste und letzte, visionäre Epoche beschreibt die Ausbreitung unserer Intelligenz über das gesamte Universum.
Kurzweil betont die großartigen Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte. Er verweist auf die Alphabetisierung auf dem Planeten, die durchschnittlichen Bildungsjahre pro Person, den Zugang zu sanitären Einrichtungen, Elektrizität und Informationstechnik, die sich in den letzten 200 Jahren dramatisch schnell entwickelt hätten. Diese Entwicklung habe zu einem deutlichen Anstieg der Lebenserwartung, der Wirtschaftsleistung und des durchschnittlichen Einkommens geführt, während die absolute Armut zurückgegangen sei und weniger Morde verzeichnet würden als in früheren Jahrhunderten. Für Kurzweil wird das Leben exponentiell besser.
Auch in der komplexen Frage der Energieversorgung zeigt sich Kurzweil optimistisch. Er argumentiert, dass die Gesamtmenge der aus erneuerbaren Quellen – Sonne, Wind, Erdwärme, Gezeiten und Biokraftstoffe – gewonnenen Energie exponentiell zunimmt, was auf die fortlaufenden Kostensenkungen in diesem Sektor zurückzuführen sei. Die sinkenden Kosten bei Lithium-Ionen-Speichern sieht er als ein weiteres entscheidendes Puzzleteil für eine bessere Welt, da diese die Ablösung fossiler Brennstoffe als Rückgrat der Energieversorgung ermöglichen werden (vgl. S. 201).
Bezüglich des Zeitpunkts der Singularität hatte Kurzweil bereits 2005 prognostiziert, dass diese im Jahr 2045 erreicht sein werde. Seitdem seien erstaunliche Fortschritte erzielt worden, insbesondere im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI). Die Fähigkeit der KI, sprachliche Hinweise von Menschen in Computercode zu übersetzen, habe die Hürde zwischen Mensch und Maschine erheblich verringert. Zudem verweist Kurzweil auf Effizienzsteigerungen in entscheidenden Bereichen: Die Kosten der Sequenzierung des menschlichen Genoms seien auf lediglich 0,003 Prozent der damaligen Kosten gesunken, und für einen Dollar erhalte man heute das 11.200-fache der Rechenleistung von Computern im Vergleich zum Jahr 2005. Diese Entwicklungen bestärken seine Annahme einer beschleunigten Transformation.
Digitale Revolution wird schon 2030 zu entscheidenden Umbrüchen führen
Kurzweil konstatiert, dass wir uns im Jahr 2005 in einer Übergangsphase zur Singularität befanden, während wir uns nun in einer Endphase dieser Entwicklung befänden. Er nimmt an, dass Menschen in zehn Jahren mit KI interagieren werden, die überzeugend menschlich wirkt, und dass Gehirn-Computer-Schnittstellen das tägliche Leben ebenso prägen werden wie heute Smartphones. Dank der digitalen Revolution in der Biotechnologie werde es möglich sein, Krankheiten zu heilen und die Lebenszeit des gesunden Menschen erheblich zu verlängern. Bereits in den 2030er-Jahren erwartet er den entscheidenden Durchbruch, die oberen Bereiche des Neokortex im menschlichen Gehirn mit der Cloud zu verbinden. Eine Kombination aus KI und revolutionärer Nanotechnologie werde es uns ermöglichen, unsere Körper – vor allem unsere Gehirne – sowie die Welten, mit denen wir interagieren, Molekül für Molekül zu entwerfen und umzubauen (S. 281).
Grundoptimismus ob einer allumfassenden Transformation der Gesellschaft
Kurzweil blendet die gesellschaftlichen Verwerfungen nicht gänzlich aus, die im Zusammenhang mit dieser Revolution entstehen könnten. Er sieht insbesondere Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt voraus. Auch Fehler und bewusster Missbrauch der Möglichkeiten, beispielsweise im Bereich der Schnittstelle von KI und Nanotechnologie, könnten problematisch sein. Grundsätzlich ist er jedoch optimistisch, dass das Leben auf der Welt bis 2045 grundlegend transformiert und verbessert sein wird. Er erwartet, dass wir materiellen Überfluss ermöglichen werden und dass bereits in Kürze der Kampf gegen die Schwächen der Biologie, das Altern und die begrenzte Hirnkapazität, aufgenommen wird.
Auch die Demokratie sieht Kurzweil durch diese Entwicklung nicht grundsätzlich gefährdet. Er argumentiert, dass die Geschichte Anlass zu Optimismus gebe. Mit der Entwicklung der Technologien für den Informationsaustausch, vom Telegraphen bis zu den sozialen Medien, habe sich die Staatsform der Demokratie mit ihren individuellen Rechten von einem kaum anerkannten Konzept zur weltweiten Wunschform entwickelt, die für fast die Hälfte der Menschen auf der Erde bereits Realität sei. Er äußert die Erwartung, dass der exponentielle Fortschritt der nächsten zwei Jahrzehnte es uns ermöglichen wird, diese Ideale noch umfassender zu verwirklichen (S. 184).