Die anti-utopische Tradition

Ausgabe: 2001 | 4
Die anti-utopische Tradition

Utopie bei Stephan Meyer: Die anti-utopische TraditionStephan Meyer, der an der Universität Hildesheim politische Ideengeschichte lehrte, nimmt sich der Geschichte der Gattung des utopischen Romans an. Utopie bedeutet es geht ihm dabei um die Darstellung einer Idealgesellschaft; den anti-utopischen Roman sieht er als deren wirksamstes Falsifikationsmodell. Über Frederik Skinner, der eine konfliktfreie Welt von unkritisch und undominant konditionierten Menschen entwarf, schreibt er etwa: „Offensichtlich war sich Skinner nicht darüber im klaren, dass er eigentlich eine Anti-Utopie der voll-kommenen Beherrschung der Menschen durch Konditio-nierung verfasst hat.” (S. 468) Ebenso wenig scheint Meyer deutlich zu sein, dass nur sein wertendes Auge diese Utopie zur Anti-Utopie werden lässt, da eine objektive Unterscheidung nicht möglich ist. Reisegeschwindigkeiten von 50 km/h waren zunächst eine Anti-Utopie, heute wären sie für viele die ersehnte Wiederentdeckung der Langsamkeit.


Der Titel bestätigt formal viel abschreckende Vorurteile: Keine Grafik, keine farblichen oder verlegerischen Abwechslungen durchbrechen die 641 Seiten Kleingedrucktes. Auch sprachlich blendet sich der Autor praktisch aus. Doch flicht der Literaturwissenschaftler seine kurzen, präzisen Sätze zu einem gut verständlichen Wissenschaftstext. Im ersten Teil analysiert Meyer das Genre inhaltlich-thematisch, wobei er gezwungen ist, auf den erzählerisch-ideengeschichtlichen Abschnitt immer wieder vorzugreifen. In kleiner Auflösung doch ohne ein überflüssiges Wort ziehen dann im zweiten Teil bekannte wie unbekannte Werke am Leser vorbei. Meyer bleibt dem Untertitel treu und zitiert und rezipiert seitenweise, ohne sich eine Bewertung zuschulden kommen zu lassen (mit Ausnahme der Aussage über Skinner). Dabei hätte man von einem Experten gern vieles mehr erfahren.


Interessant wäre nicht nur die Schilderung der Entstehungsbedingungen eines utopischen Romans, sondern auch Auskunft darüber, inwieweit sich Autoren diesem entziehen wollten und konnten. Man würde gerne Meyers explizite Meinung darüber hören, warum die Utopie seit der Antike statische, hierarchische, isolierte, autarke, zentralistische und tendenziell totalitäre Gesellschaften an die Wand malt. Sind diese einfacher zu beschreiben? Scheint dem Romanleser die Macht des Big Brother plausibler als in der Komplexität der Postmoderne versickert? Einfach gefragt:  Welcher Roman war gut geschrieben oder besonders prophetisch,  und wie könnte es mit der Utopie weitergehen?


Aber nie vertauscht Meyer die Tuschefeder mit dem groben Pinsel und erlaubt sich etwa eine Anmerkung über den Impetus, den die neuen Medien dem Thema Utopie und den Stilmitteln seiner Thematisierung gegeben haben. Schade. Ganz klein geflochten findet sich, dass die Utopie zunächst in einem fernen Land, dann in ferner Zeit, und schließlich wieder in einen fernen (Welt-)Raum verlegt wurde. Zusammengefasst: Gesichertes Wissen, fest geschnürt und trotz aller Einwände für Literaturhistoriker empfehlenswert. L. V.

 

Bei Amazon kaufenMeyer, Stephan. Die anti-utopische Tradition. Eine ideen- und problemgeschichtliche Darstellung. Frank-furt/M. : P. Lang, 2001. (Europäische Hochschulschrif-ten; 1790) 641 S., € 81,76 / DM / sFr 160,- / öS 1.125,-