Was ist denn dieses „Unwesen“ zwischen Tier und Übermensch? Dem widmet sich Lisz Hirn. Sie sammelt eigene Ideen, Beobachtungen und Überlegungen von Philosoph:innen, sortiert sie neu und formt daraus ein Bild, bei dem die Verletzlichkeit des Menschen im Mittelpunkt steht.
Die Autorin greif oft auf Friedrich Nietzsche zurück. Bei ihm ist das Menschsein wie „ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde “ (S. 63). Der Mensch ist bei ihm etwas Werdendes. Er kommt aus der Fleischlichkeit und ist in seiner biologischen Ausrichtung ein auf die Gemeinschaft ausgerichtetes Lebewesen, das erst durch die Zugabe neu auftauchender Qualitäten entsteht. Dieses Werdende formuliert Hirn an anderer Stelle so: Man teilt mit den Tieren die Verletzlichkeit. Gleichzeitig sind die Menschen aber bestrebt, über diese Verletzlichkeit hinwegzukommen, sie abzuschaffen, „Übermensch“ zu werden. Gehen wir diesen Weg mit.
Der Ausgangspunkt ist die Fleischlichkeit. Die ultimative Form der Verletzlichkeit ist in diesem Zustand das Gegessenwerden. Etwas, das den Tieren passieren kann, dem Menschen aber auf keinen Fall, spätestens seit Gott uns die Erde untertan gemacht hat. Der Horror des Gegessenwerdens verfolgt uns. Das menschenfressende Monster ist eine fixe Größe der Popkultur und der gesellschaftlichen Phantasien. Der Mensch ist das Tier, das nicht gegessen werden darf, sagen wir Menschen und versuchen daher, ganz anders zu werden als die Tiere. Hirn nennt das freilich „fleischlichen Hochmut“ und deutet dies als eine der menschlichen Besonderheiten.
Auch das Wissen um den eigenen Tod hebt uns ab. „Aus diesem Grund mag der Mensch auch das einzige Lebensweisen sein, das beerdigt“ (S. 31). Und das macht er kunstfertig, am ausgeprägtesten bei den Mumifizierungen im alten Ägypten. Darin spiegle sich wider, dass man sich mit dem eigenen Verwesen nicht abgefunden hat. Schon zu Lebzeiten kämpft man gegen Verfall. Das Altern kennzeichnet die langsame Auflösung der organischen und sozialen Ordnungsstrukturen. Man verfällt, bis man zerfällt. Wir wollen so nicht sein, wir wollen anders werden.
Wir wollen nicht verfallen, wir wollen auch über den Schmerz hinweg. Nichts soll uns mehr verletzen können. Das Bewusstsein um die eigene Unvollkommenheit und die immer größer werdende Perfektion der Maschine kränkt uns. Hirn erinnert daran, dass Günther Anders dies das „prometheische Gefälle“ (S. 71) nannte. Das Verfallen gilt es aufzuhalten, nicht zuletzt mit Technik, der Verbesserung des Menschen. In ihr zeigt sich unser Versuch, über das Fleischliche hinwegzukommen. Der transhumanistische Traum von der Verbesserung des Menschen ist für Hirn nur eine Fortführung des angeblichen Mythos vom Mängelwesen Mensch, der nicht mehr auf die Erlösung durch Gott, sondern auf die Erlösung eines Deus ex machina hofft. Für das nach Optimierung strebende Individuum ist Lust nur noch ohne Schmerz denkbar. Lisz Hirn hat ihre Zweifel: „Die Vollendung eines völlig verteidigten ‚siegreichen‘ Selbst ist eine schauderhafte Phantasie“ (S. 69).
„Dennoch ist es unser verdammtes Fleisch, das uns verweigert, ganz Maschine zu werden. Wir können nie völlig verschmelzen“ (S. 48). Und das Fleisch bleibt „das Archiv unserer Verletzlichkeit, der Narben, der Spuren von Schmerz und Verwüstungen – von der Geburt bis zum Tod“ (S. 75). Doch müssen wir deswegen der Maschine mit Scham gegenüberstehen? Hirn meint, wir können unsere Verletzlichkeit nicht hoch genug schätzen. Sterblichkeit und auch Geboren-werden seien Orte der Unberechenbarkeit. An dieser Bruchstelle liegt auch die Sensibilität des Körpers. Gerade aus dieser können unsere Gedanken geboren werden. „Technischer Rationalität fehlt die Unterscheidung und das Verständnis für die unterschiedlichen Vulnerabilitäten menschlicher Existenz“ (S. 49).
„In dieser Welt ist der Mensch inmitten seiner Maschinen, inmitten anderer Organismen, die sich mit ihm die kritische Zone teilen. Diese Faszination für die Vulnerabilität, also für das, was der langsamen Reduktion unterliegt, macht den Unterschied. Ist es nicht genau die Sphäre des Fleisches die einzige, die die Maschine nie ersetzen kann?“ (S. 84). Und: „Aus diesem absurden Dogma der Suprematie des Geistes über das Fleisch lässt sich auch erklären, dass unsere Verletzlichkeit sowohl als Schwäche als auch als Mangel gedeutet wurde. Stattdessen macht sie uns als lebendige Wesen nicht nur des Trostes, sondern auch der Fürsorge bedürftig“ (S. 109).
„Was, wenn es die Aufgabe unserer Epoche ist, den ‚letzten Menschen‘ der Maschine gegenüber Souveränität zu verleihen, um drohende atomare und technisch induzierte ökologische Katastrophen verhindern zu können? Wenn ja, dann hieße es wohl, dass wir unsere ‚prometheische Scham‘ ein für alle Mal überwinden müssten“ (S. 84 f.). „Das Verletzlichste an uns ist das Menschliche, nicht unser Fleisch. Dass wir anders sind als bloßes Fleisch, als irgendeine zoologisch erfasste Tierart, anders als Rechenmaschinen und Werkzeuge, ist einer genuin politischen Aufforderung geschuldet. ‚Ecce Homo!‘“ (S. 111).