Der Missstand als Norm

Ausgabe: 1991 | 4

Der kritische Mediziner versammelt in diesem Buch teils bereits an anderer Stelle publizierte sowie als Vorträge gehaltene, teils noch unveröffentlichte Beiträge. Ihnen gemeinsam ist das Plädoyer gegen das verordnete, von Vorschriften und Scheinzwängen fremdbestimmte Leben, für den autonomen Menschen. Als erster Zeuge dient der berühmte Wiener Arzt Ignaz Semmelweis mit seinen "Offenen Briefen". Er verdankte sowohl seine medizinischen Einsichten als seine Ächtung durch das damalige Establishment ein und derselben Wurzel - seinem unkonventionellen Denken. Indem er Missstände aufzeigte, setzte er sich der Kritik aus. Ähnliches ist Werner Vogt bei zahlreichen   24 Anlässen widerfahren. Er engagierte sich in einem Modellversuch "Sozialambulanz" , in dem die Trennung zwischen Sozial- und Gesundheitswesen überwunden werden sollte; erarbeitete an Reformvorschlägen zum Gesundheitswesen mit und attackierte die Bürokratisierung, die ungenierte Ausnützung öffentlich-medizinischer Einrichtungen zur privaten Profitmaximierung millionenschwerer "Götter in weiß", er wandte sich gegen die parteipolitische Durchdringung aller Lebensbereiche - und erlebte mehr als einmal, wie Entwürfe in Schubladen verschwanden, Initiativen eingestellt wurden, mit Disziplinarverfahren gegen einen Unangepassten vorgegangen wurde. Vogt sieht die Tragödie von Lainz als Fehler des Systems - und wieder beißen die Hunde die Letzten, in diesem Fall die überlasteten, mit einer übermenschlichen Aufgabe alleingelassenen Frauen. Papst Wojtyla, Gerd Bacher, Günther Nenning entgehen ebensowenig einer scharfen Kritik wie Erwin Ringel, Rudolf Bahro, Hans Cermak oder der Kirchenfunk im Fernsehen. Der Widerstand in der Hainburger Au, die internen Grabenkämpfe der Grünen, die politische Kultur der Alternativen, der Fall Waldheim, die Opernballdemonstrationen, die offiziellen österreichischen Reaktionen auf den Golfkrieg, Nicaragua, eine Studienreise mit 140 Gymnasiasten nach Israel oder eine Rumänien-Hilfsaktion sind andere Anlässe für Vogts auch durchaus selbstkritische Analysen. In einem Brief an einen jüdischen Freund, überschrieben "Der Traum vom erträglichen Österreich", sagt Vogt: "Mitunter anstrengende, letztlich aber immer lustvoll ausgelebte Konflikte haben uns dorthin gebracht, wo wir sind. Wir haben uns an den Rand gedacht und geschrieben." Das mag schon stimmen. Aber wir brauchen diesen Rand, denn von dort sieht man schärfer. Gesellschaftskritik Medizin

Vogt, Werner: Einatmen - Ausatmen. Der Missstand als Norm. Wien (u.a.): Europa-Verl., 1991.256 S., DM 36,- / sFr 27,- / öS 248