Ulrike Ackermann

Das Schweigen der Mitte

Ausgabe: 2020 | 4
Das Schweigen der Mitte

„Wir beobachten heute Polarisierungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen: Sie zeigen sich in sozialen Spaltungen gesellschaftlicher Gruppen, sie prägen Debatten, fördern eine dichotome politische und ideologische Lagerbildung und zeichnen natürlich auch die intellektuelle Landschaft“ (S. 12) – so Ulrike Ackermann, die sich in diesem vorliegenden Essay mit dem Erodieren gemäßigter politischer Haltungen und dem Schwinden liberaler Positionen in öffentlichen Auseinandersetzungen beschäftigt.

Diese Erosion der Mitte zeigt sich für Ackermann im stärker werdenden Antikapitalismus, der sich einer immer größeren Anhängerschaft versichern kann, links wie rechts; außerdem sieht sie die Meinungsfreiheit zunehmend unter Druck durch wenig differenzierte mediale Debatten und Pranger-Logiken, anstelle eines lebendigen Austauschs.

Die Politikwissenschaftlerin verortet auch an den Hochschulen eine „Verrohung der Kommunikation“ (S. 45), bei welcher Lehrpersonen von Shitstorms heimgesucht würden, wenn sie nicht der (tendenziell eher) linken Meinung der organisierten Studierenden entsprächen: „Die Meinungsfreiheit, aber auch zunehmend die Wissenschaftsfreiheit sind an den Hochschulen in eine prekäre Situation geraten. Der antiplurale Wunsch nach Eindeutigkeit und Reinheit mündet folgerichtig in die Forderung nach geschützten Räumen, in denen das Unbekannte, Unfassbare oder ‚Böse‘ ausgeschlossen bleiben soll.“ (S. 49) Im Literaturbetrieb sei ähnliches festzustellen, so die Autorin.

Nichts zeige den Verlust der Mitte so sehr wie der Niedergang der Volksparteien zu Gunsten von populistischen Parteien, sowohl im linken als auch im rechten politischen Spektrum. Ackermann konstatiert eine Krise der Repräsentation, die sich in der breiten Ablehnung von Eliten und von Parlamentarismus äußere – während die etablierte politische Klasse es verabsäume, brodelnde Probleme konstruktiv anzusprechen oder gar zu lösen, Kritik als populistisch motiviert abtue und Kommunikation zunehmend als Marketing-Strategie verstehe. Zum „Eliten-Bashing“ durch populistische Stimmen gesellt sich also auch ein Eliten-Versagen. (vgl. S. 118) Dazu komme ein Hang zur Selbstgerechtigkeit der urbanen, hochgebildeten und global vernetzten „neuen Mittelklasse“, was vor allem Angehörige der „alten Mittelklasse“ – etwa Angestellte oder Handwerkerinnen und Handwerker – vor den Kopf stoße: „Inzwischen stehen sich alte Mittelklasse, Unterklasse und neue Mittelklasse kaum verbunden und einander fremd geworden gegenüber. Ihre Alltagswege kreuzen sich nicht mehr und es gibt kaum noch soziale Berührungspunkte.“ (S. 126) Ähnliches ließe sich im Verhältnis zu Stadt- und Landbevölkerung beobachten, wie die Proteste der Gelbwesten in Frankreich eindrücklich gezeigt hätten.

Debatte um Heimat und Identitätspolitik

Besonders polarisierende Debatten seien jene um Heimat – hier gehörten auch die Themenkomplexe Migration und Umgang mit dem politischen Islam dazu – und Identitätspolitik. Während der Flüchtlingskrise 2015 seien kritische Stimmen, die auf die Wichtigkeit intakter Grenzen verwiesen und danach gefragt hätten, wie viel Einwanderung ein Land vertragen würde, schnell ins rechte Eck gestellt worden, während es am rechten Rand der Gesellschaft zu Radikalisierungen gekommen sei: „In Deutschland ist es allerdings bis heute nicht gelungen, eine ‚Sprache der Mitte‘ in dieser Debatte zu finden und sie so zu führen, dass die Argumente der Gegenseite als legitim respektiert würden und tatsächlich über verschiedenen Handlungsoptionen offen gestritten worden wäre.“ (S. 153) Ein Problem ist für Ackermann auch der Umgang mit dem politischen Islam: Kritische Auseinandersetzungen mit islamistischen Parallelgesellschaften – beispielsweise mit dort existierendem Sexismus oder Antisemitismus – gebe es unter dem Vorwurf der „Islamophobie“ kaum.

Ähnliches gelte für Identitätspolitik: Diese stellte sowohl auf rechter wie auf linker Seite Gruppenzugehörigkeit und damit verbundene kollektive Erfahrungen in den Vordergrund und unterminiere damit den Individualismus. Die damit einhergehende Moralisierung propagiere einen „Reinheitsterror“, der auf Opfernarrative setze: „Immer neue Opferkollektive fühlen sich beleidigt, missachtet, unterrepräsentiert und überbieten sich besonders gern im gegenseitigen Rassismusvorwurf. Eine derartige kulturelle und ethnische Identitätspolitik, die eigentlich Gleichheit befördern wollte, reproduziert und konserviert nun auch noch im Namen des Antirassismus just jene Zuschreibungen und Vorurteile, die man mit Rasse und Volkszugehörigkeit assoziiert.“ (S. 182f.)

Eine „antitotalitäre Selbstaufklärung“ 

Die Ausführungen enden mit einem „Plädoyer für eine antitotalitäre Selbstaufklärung“: Es gehe darum, den Wettstreit von Ideen wieder aufzunehmen, der Wissenschaft ihre Freiheit und Unabhängigkeit zu garantieren und dem Aufschwung der politischen Ränder entgegenzutreten. Ein selbstbestimmtes, autonomes und aufgeklärtes Individuum sei der beste Garant gegen Kollektivismus von links und rechts; dazu brauche es Intellektuelle, die an alte liberale Traditionen anknüpften und der Mitte wieder eine Stimme verliehen.

Politisch dem Liberalismus nahestehend, zeigt sich Ackermann vor allem gegenüber linken antikapitalistischen Positionen kritisch, ohne dabei jedoch die Probleme zu thematisieren, welche der Kapitalismus jüngeren Datums geschaffen hat – etwa die ökologische Krise oder soziale Verwerfungen. Damit bleibt ihre Kritik an der linken und rechten Liberalismuskritik unvollständig. Zudem bietet sie keine „Wege aus der Polarisierungsfalle“, wie der Untertitel suggeriert, sieht man von dem kurzen Plädoyer für die antitotalitäre Selbstaufklärung ab. Und trotzdem ist dieses Buch wichtig, weil es aus der Komfortzone holt, Tabuthemen anspricht und damit Debatten anregt. Es ist ein Plädoyer für den Pluralismus, der zunehmend unter Druck gerät – ein wichtiger Befund, den Ackermann mit Das Schweigen der Mitte treffend benannt hat.