Mit der Aussage „Europa ist krank“ beginnt Perry Anderson seine Beschreibung der politischen Lage Italiens. Dabei steht Italien exemplarisch für ganz Europa, was sich an den Krankheitssymptomen deutlich zeige, so der Autor. Die Rede ist vom Niedergang der Demokratie, der Wachstumsschwäche und der alles durchdringenden Korruption der politischen Klasse. Diese ist nach Ansicht des Historikers „nicht lediglich eine Folge des Verfalls der politischen Ordnung. Sie ist natürlich auch ein Symptom des ökonomischen Regimes, das Europa seit den achtziger Jahren gefesselt hält“. (S. 12)
Abgesehen von den zum Großteil bekannten Details italienischer Innenpolitik, z. B. den parteipolitischen Hintergründen des Machtwechsels von Silvio Berlusconi über Mario Monti und Enrico Letta zu Matteo Renzi, interessiert uns (und den Autor, der laut Jürgen Kaube von der FAZ v. 28.11.2015, in den letzten Jahren an jedem Kampf des intellektuellen europäischen Marxismus mit sehr trockenen Kommentaren beteiligt war), der europäische Zusammenhang. Anderson kritisiert v. a. die ökonomische Ordnung der EU, durchgesetzt von Berlin, Frankfurt und Brüssel, die mit einem System drakonischer Austeritätspolitik (siehe Nr. ) die Schrumpfung der Haushalte, den Abbau der Sozialleistungen, die Entlassung von öffentlichen Angestellten und die Rückzahlung der Schulden durch die schwächeren Mitgliedsstaaten an der Peripherie durchgesetzt hat. So wie Kielmansegg zeigt Anderson am Beispiel von Draghi und der EZB-Politik die Praxis der Hintergehung des Rechts und betont, dass nie „eine Bürokratie flexibler gewesen (sei) bei der Erfindung von Methoden, dieses Recht außer Kraft zu setzen“ (S. 76). Die EZB setzte beispielsweise 2014 Maßnahmen durch, mit denen sie forderungsbesicherte Wertpapiere aufkaufen konnte, Schritte also zur Umgehung des Verbots des direkten Erwerbs von Staatsanleihen, wie es im Vertrag von Maastricht festgeschrieben wurde.
Anderson hält mit seiner Kritik am europäischen (und italienischen) Neoliberalismus, der die Verhältnisse destabilisiere und dem Populismus Vorschub leiste (siehe Berlusconi) nicht hinterm Berg. Er hat aber für Europa auch keine Lösung parat. Italien wird, so seine Prognose, in Zukunft innerhalb Europas, wo jetzt noch Deutschland dominiert (was einzig und allein auf einer Politik der Lohndrückerei basiere), eine wichtigere Rolle spielen. Alfred Auer
Anderson, Perry: Das italienische Desaster. Berlin: Ed. Suhrkamp, 2015. 87 S., € 7,99 [D], 8,30 [A]; ISBN 978-3-518-07440-4