Der Wirtschaftspublizist Wolfgang Kessler ist bekannt für seine pragmatischen Vorschläge zur Zügelung des Kapitalismus. Diese macht er auch in seinem neuen Buch, in dem er das Ende unseres billigen Wohlstands ankündigt. Es brauche ein Wohlstandsmodell, das nicht auf Kosten des Klimas, der Natur und der Ärmsten geht. Dies komme nicht von selbst, sondern erfordert, „dass an jenen Denkgebäuden der Wirtschaftspolitik gerüttelt wird, die uns immer noch als Wahrheiten verkauft werden, aber von den Krisen als Scheinwahrheiten entlarvt wurden: der Markt, der alles regelt, aber in der Krise zusammenbricht; das Wirtschaftswachstum, das den Wohlstand mehrt, aber die Erde zerstört; die Globalisierung, die Rohstoffe und Menschen ausbeutet; die Digitalisierung, die oft mehr Fluch als Segen ist; die soziale Ungleichheit, die den Zusammenhalt der Gesellschaft bedroht; die Konsumfreiheit, die längst zum Frevel an künftigen Generationen missbraucht wird“ (S. 10 f.).
In pointierter Form beschreibt Kessler zehn „Scheinwahrheiten“, die einer zukunftstauglichen Ausrichtung des Wirtschaftens entgegenstehen. Diese reichen für den Autor von der propagierten Lösungskapazität ausschließlich freier Märkte sowie dem Festhalten am Wirtschaftswachstum über die Mär von der Produktivität der Ungleichheit sowie der Notwendigkeit von privatem Kapital für Gesundheitsvorsorge und Pflege bis hin zur allseits gepriesenen Konsumfreiheit. Der Autor widerlegt diese Scheinwahrheiten mit Fakten und lädt dazu ein, sich auf Alternativen und innovative Wege einzulassen: „Wer an einer gerechten und nachhaltigen wirtschaftlichen Zukunft interessiert ist, kann nicht auf Marktsignale warten, die sich an Angebot und Nachfrage von heute und nie am Bedarf von morgen orientieren“ (S. 19).
Notwendig seien Verbote und Gebote ebenso wie eine zukunftsweisende europäische Industriepolitik und die Teilung des Reichtums. Die ökologische Herausforderung müsse ins Zentrum der Politik und unseres Wirtschaftens, was eine Postwachstumsperspektive brauche: „Der kapitalistische Expansionsdrang steht nun seinem Endgegner gegenüber: der Erde“ (S. 24). Neue Technologien und eine Bepreisung des Umweltverbrauchs sollen dabei durchaus helfen, reichen aber nicht, so Kessler: „Die große Chance für die Zukunft liegt in einem neuen Gleichgewicht von Ausbau, Veränderung, aber auch Rückbau. Dann lassen sich soziale Verwerfungen durch Massenarbeitslosigkeit ebenso verhindern wie ein zerstörerisches Wachstum“ (S. 28). Dem Schrumpfen ordnet der Autor neben dem motorisierten Individualverkehr und der Luftfahrt auch den Finanzsektor zu, der immer weniger die Realwirtschaft finanziere. Laut einer zitierten Studie sind 70 Prozent der Finanzgeschäfte der Banken nicht auf die Kreditvergabe an Haushalte und Unternehmen ausgerichtet. Notwendig seien daher eine Finanztransaktionssteuer, strenge Regeln für Schattenbanken, höhere Eigenkapitalquoten sowie ein Verbot des Hochfrequenzhandels (vgl. S. 34).
Solidarische Wende
Die Ambivalenz der Digitalisierung beschreibt Kessler am hohen Energieverbrauch der Server ebenso wie an der Aneignung privater Daten durch Konzerne. Doch es gäbe Lösungen wie Datenschutzrechte oder die Verpflichtung, die Abwärme der Rechner für das Heizen zu verwenden. Zudem gäbe es Software mit weniger Energieverbrauch sowie Konzepte für gemeinwohlorientierte soziale Medien wie „Webook“ statt „Facebook“. Da mit der Öko-Wende die Zeit billiger Energie und Lebensmittel zu Ende gehen werde, plädiert Kessler auch für neue Konzepte der Solidarverteilung. Neben einer gerechten Erbschaftssteuer und der Schließung von Schlupflöchern für Reiche schlägt er die Wiedereinführung eines Krisen-Solidaritätszuschlags vor, wie er für die Wiedervereinigungskosten umgesetzt wurde, um damit Maßnahmen zum Zusammenhalt der Gesellschaft zu finanzieren. Argumente hierfür liefere auch der Weltglücksreport der Vereinten Nationen, der soziale Faktoren für Spitzenpositionen im Glücksranking ausmacht: geringe Einkommensunterschiede, ein verlässlicher Zugang zu sozialen Diensten und Sozialleistungen, eine geringe Korruption sowie ein hohes Maß an persönlicher Autonomie (vgl. S. 62).
Öffentliche Leistungen nicht privatisieren
Kessler kritisiert einmal mehr die zunehmende Privatisierung im Gesundheitssektor – fast die Hälfte aller Krankenhausbetten in Deutschland befanden sich 2022 bereits in privater Hand, zwanzig Jahre davor seien es erst 26 Prozent gewesen. Kessler dazu: „Das Geschäft mit der Heilung läuft für Privatunternehmen mittlerweile so gut, dass sie immer häufiger auch nach den medizinischen Versorgungszentren greifen“ (S. 67). Als Mindestforderung sieht der Autor das Verbot der privaten Gewinnentnahme in Kranken- und Pflegehäusern sowie eine Pflichtversicherung, für die alle zu versteuernden Einkommen herangezogen werden – ein Modell, das etwa in Österreich umgesetzt wird.
Als Marktversagen beschreibt Kessler auch den gigantischen Rohstoffverbrauch. 1.400 Tonnen Kobalt und 180 Tonnen Lithium sollen allein in den Schubladen und Abstellkammern deutscher Haushalte lagern, weil nicht mehr verwendete Smartphones und PCs keiner Wiederverwertung zugeführt werden. Dass es auch erste Ansätze für eine Abkehr vom Geschäftsmodell des Wegwerfens gibt, schildert der Autor am Beispiel der Stadt Amsterdam und deren Roadmap zur Kreislaufwirtschaft. Demnach soll die holländische Metropole den Rohstoffverbrauch bis 2030 halbieren und bis 2050 auf Null reduzieren, da dann alle Rohstoffe im Kreislauf geführt werden. Als Zukunftsmodelle gelten für den Autor auch der Reparaturbonus aus Österreich sowie Steuererleichterungen in Schweden, wo für Reparaturen nur 12 statt 25 Prozent Mehrwertsteuern verrechnet werden. Gleichzeitig können bis 2.600 Euro pro Jahr an Reparaturen bei der Einkommensteuer angerechnet werden (vgl. S. 81).
Schließlich plädiert Kessler für mehr Resilienz in der Wirtschaft, was eine andere Form von Globalisierung bzw. eine „Glokalisierung“ (S. 90) erfordere. Diversifizierte Lieferketten zählt der Autor hier ebenso dazu wie einen fairen Handel und eine Implementierung von Klima- und Umweltagenden in die Welthandelsverträge. Einmal mehr plädiert er auch für ein globales Grundeinkommen gegen Armut, das aus globalen Vermögenssteuern finanziert werden soll. Weitreichend wären auch die Vorschläge für individuelle CO2-Budgets, die allen Erdenbürger:innen zustehen sollen, sowie soziale Pflichtjahre und ein Erbe für alle – Maßnahmen, die laut Kessler den Zusammenhalt in der Gesellschaft fördern würden.
Resümee: Wolfgang Kessler benennt die Herausforderungen, vor denen wir stehen; er zeigt auf, wo der Kapitalismus und der freie Markt keine Lösungen bieten und er macht zahlreiche Vorschläge, wie unser Wirtschaftssystem mit Reformen Schritt für Schritt umgebaut werden könnte. Die Versorgung mit den Grundgütern würde ins Zentrum des Wirtschaftens rücken. Wir würden nicht schlechter leben, wohl entspannter und auch mit mehr Sinn behaftet. Der Autor belegt dies am Ende seines Buches mit einer persönlichen Bemerkung: „Ich bin kein besserer Mensch als andere, aber ich empfinde Engagement nicht als Verpflichtung, sondern als Teil meines Lebens, den ich auch genießen kann“ (S. 122). Dem ist nichts hinzuzufügen.