In den Sozialwissenschaften häufen sich seit Jahrzehnten Befunde, daß nicht mehr sozioökonomische Kriterien ausschlaggebend für gesellschaftliche Segmentierungen und die Lebens- und Kommunikationsprozesse von Menschen sind, sondern vielmehr Fragen des individuellen Lebensstils. Dieses Theorem läßt sich bis auf Max Weber zurückverfolgen, und vor allem seit Bourdieu lassen empirische Untersuchungen immer wieder vermuten, daß die "Alltagsästhetik" zum bestimmenden Faktor sozialer Differenzierungs- und Orientierungsprozesse geworden ist. Flaig und Ueltzhäffer haben ab Mitte der siebziger Jahre das Sinus-Milieumodell entwickelt, mit dessen Hilfe dieses Theorem empirisch überprüfbar gemacht werden soll. Herkömmliche Begriffe zur Charakterisierung gesellschaftlicher Orientierungs- und Differenzierungsmuster wie "Stand" oder "Klasse" werden durch den Begriff des "Milieus" ersetzt. In ihm spiegelt sich das Alltagsbewußtsein unterschiedlicher sozialer Gruppen, von denen die Autoren mittlerweile neun unterscheiden. Soziale Milieus sind "subkulturelle Einheiten", die Menschen gleicher Lebensweise zusammenhalten. und die das politische Verhalten dieser Gruppen entscheidender prägen als Faktoren wie Einkommen, Beruf etc. Aus dieser Entwicklung folgt die beobachtbare soziale Zersplitterung, die vor allem die Existenz von politischen Großparteien gefährdet. Verbunden mit dieser Fragmentierung ist die zunehmende Abkehr von rationaler und die Hinwendung zu emotionaler politischer Kultur. Dies bedeutet die Zurückdrängung diskursiver Formen der Auseinandersetzung zugunsten bloßer Abbildung der Realität in "symbolischer Politik", der das Medium Fernsehen zusätzlichen Auftrieb verleiht. Über Politik wird nicht mehr diskutiert, Politik wird inszeniert. Genau hier liegt die große Gefahr der "Ästhetisierung" von Politik und Gesellschaft: Zwischen den einzelnen sozialen Milieus zerreißen zunehmend die Kommunikationskanäle. J. P.
Flaig, Berthold B; Meyer, Thomas; Ueltzhöffer, Jörg: Alltagsästhetik und politische Kultur. Zur ästhetischen Dimension politischer Bildung und politischer Kommunikation. Bonn: Dietz, 1993.216 S., DM 29,80 / sFr 30,80/ öS 233