Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy forscht intensiv zu Kunstraub und Raubkunst und ist nicht zuletzt seit ihrem 2018 erschienenen Buch Die Provenienz der Kultur sowie dem gemeinsam mit dem Ökonomen Felwine Sarr erarbeiteten Bericht über Restitutionsforderungen für Emmanuel Macron eine der wichtigsten Stimmen in der Debatte um die Rückgabe afrikanischer Kulturgegenstände. Jetzt hat sie sich auf die Suche nach den Vorgängen um die Restitutionsforderungen seitens der afrikanischen Länder gemacht, die nach ihrer Unabhängigkeit ab 1960 vielfach gestellt wurden. Bereits damals kam es in den europäischen Museen, in der Politik und der Gesellschaft zu intensiven Diskussionen über Rückgaben, doch nach einem Höhepunkt zwischen 1978 und 1982 wurde die Debatte vergessen, oder besser: erfolgreich verdrängt. In verschiedenen Archiven hat Savoy aufschlussreiche Dokumente gefunden und im vorliegenden Werk prägnant zusammengestellt, was die Ereignisse wieder aufleben lässt. Die hier versammelten Befunde könnten für den Fortgang der Restitutionsdebatte wegweisend sein. Denn wenn wir sehen, „welche Akteure und Strukturen, welche Argumente und Pathosformeln es waren, die […] das Projekt einer geordneten und fairen Rückgabe von Kulturgütern an die ‚Dritte Welt‘ […] scheitern ließen“ (S. 9), wird klar, dass die Debatte keineswegs neu ist und wir heute mehr denn je gefordert sind, die aufgeschobenen Probleme anzugehen . Savoy zieht den Vergleich zur Klimadebatte, die ebenfalls in den 70ern intensiv geführt wurde und dann verebbte. Wie konnte es am Ende sogar zu einer Leugnung der wissenschaftlichen Tatsachen kommen?
Die Forderungen und Gesuche zu Restitutionen kamen von afrikanischen Intellektuellen oder Museumsleuten, die stets die Bedeutung von Kulturgütern für den Selbstfindungsprozess ihrer Gesellschaften betonten und dabei meist auf die Übergabe oder lediglich Dauerleihgabe einiger weniger Objekte hinauswollten. Die sich manifestierenden Argumente gegen jedwede Rückgabe seitens der europäischen Museen waren einerseits das Beharren auf einem legalen Besitz der Gegenstände, da sie entweder völlig rechtmäßig auf dem internationalen Kunstmarkt erworben worden seien, oder es trotz eigener kolonialer Machenschaften keinerlei gewaltsame Raubzüge gegeben hätte (was schlicht gelogen war). Andererseits wurde den afrikanischen Ländern Nationalismus vorgeworfen, der dem Universalismus von Kunst entgegenstehe. Außerdem wurden die Forderungen aufgebauscht, wenn es hieß, Museen könnten ihre gesamten Bestände verlieren. Doch Befürworter:innen, auch in Europa, ließen sich nicht einschüchtern und kämpften weiter. Die Fronten verliefen nicht nur zwischen Afrika und Europa, sondern oftmals zwischen den Generationen; einer männlich dominierten und vom Nationalsozialismus geprägten Elite an höheren Posten in den Institutionen, und einer jüngeren, die bereit war zu Aufarbeitung und Übernahme von Verantwortung. Ebenso verlief eine Grenze zwischen realen und eingebildeten Kenntnissen afrikanischer Wirklichkeit, und auch zwischen Geschlechtern, denn oft waren es Frauen, die Solidarität mit Afrika zeigten.
Restitutionsdebatte vor dem Hintergrund einer enormen Kluft
Die Restitutionsdebatte spielte sich also vor dem Hintergrund einer enormen Kluft ab: Während die Unabhängigkeitserklärung der UN-Voll-versammlung 1960 die Freiheitsrechte der kolonialen Länder betonte und ein rasches und bedingungsloses Ende der Kolonisation forderte, blieben reflexhafte Bevormundung und Selbstgerechtigkeit auf Seiten vieler europäischer Akteur:innen weiterhin bestehen, afrikanische Kulturen wurden generell angezweifelt und bespöttelt. In den Museen und im Kunsthandel wusste man andererseits sehr wohl um die Existenz afrikanischer Kultur und ihres Werts, weshalb die ehemaligen Kolonialmächte alles daran setzten, ihre Sammlungen zu behalten.
Man berief sich auf Objektivität und Affektlosigkeit, argumentierte selbst aber mitnichten neutral, sondern mit stark interessegeleiteten Verschiebungen von Emotionen und einem für Wissenschaftler:innen inakzeptablen Umgang mit historischen Fakten und Zahlen. In den Aufzeichnungen diverser Konferenzen zeigt sich eine Geisteshaltung aus unterschwelligem Paternalismus, einer immer wieder beschworenen Vernunft und emotionsfreiem Zugang zum Thema. Obwohl es parallel zu dieser Haltung auch dialogische und experimentierende Diskussionen gab, bei denen afrikanische Fachleute einbezogen waren, setzte sich die erstgenannte durch, teilweise bis in die 2010er-Jahre. Sie war also keineswegs allgemein gültig, sondern wurde produziert von „jener klar definierten Gruppe, die in der Bundesrepublik Deutschland Ende der 1970er-Jahre die Restitutionsforderungen aus ehemals kolonisierten Ländern nachhaltig blockierte: Männern, fast alle über 50, darunter viele Juristen, einige ehemalige NSDAP-Mitglieder, die meisten ohne nennenswerte Auslandserfahrung“ (S. 135). Im Buch sind zur besseren Einsicht der teils wahnwitzigen Argumentationen einige Dokumente abgedruckt und von der Autorin kommentiert, beispielsweise Auszüge aus Stellungnahmen der Museumsleiter.
Vonseiten der afrikanischen und Restitutions-befürwortenden Akteur:innen gab es international aufsehenerregende Zeitschriftenartikel, Filme und Festivals. Die künstlerische Auseinandersetzung spielte in der Restitutionsdebatte der 1970er-Jahre eine entscheidende Rolle, da sie, wie auch heute noch, Raum für politische Imagination öffnet. Auffallend dabei ist die immer wieder durchdachte Gestaltung der Organisatoren, die politische Symbolkraft entfaltete und die aktuellen medialen Möglichkeiten ausschöpfte. Ein Beispiel ist das oft verwendete Bild der Queen Idia Mask aus Benin City, das an die reiche vorkoloniale Kulturgeschichte Nigerias erinnert, aber seit 1910 im British Museum aufbewahrt wird.
Ein spannende Rekonstruktion
Bénédicte Savoy ist eine spannend zu lesende Rekonstruktion eines Stücks Zeitgeschichte gelungen, in der Mechanismen sichtbar und die Bedeutung von Sprache deutlich werden, was für ein besseres Verständnis auch heutiger Geschehnisse und deren Einordnung höchst bedeutsam ist.