Wenn die Staaten unregierbar werden

Ausgabe: 1998 | 1

Mit dem Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, dem französischen Geschäftsmann und Autor Alain Minc und dem amerikanischen Ökonomen Lester Thurow teilt der schwedische Waldorfpädagoge Frans Carlgren die Überzeugung, daß wir in eine "chaotisch verlaufende Epoche der Geschichte" eintreten (S.9). Anders als diese sieht er darin jedoch die Chance des ”Selbstständigwerdens von Wirtschaft und ziviler Sphäre" bei gleichzeitiger Reduzierung des Staates auf die Garantie der Rechtsordnung.

Der Autor beschreibt zunächst an Beispielen, etwa der Friedens- und Umweltbewegungen in Westeuropa, dem gewaltfreien Umbruch in den osteuropäischen Staaten, aber auch anhand von Basiswirtschaftsinitiativen in Lateinamerika (etwa nach dem peruanischen Vorbild von de Soto) oder Asien (Vorbild Grameenbank in Bangladesh) den "Rückzug der Obrigkeit" und das Prinzip der Selbstorganisierung von Menschen als historisch richtungsweisenden Prozeß. Die Stärkung der "zivilen Sphäre" untermauert Carlgren zudem mit Berichten über die kontinuierliche Emanzipation des Schulwesens von staatlicher Bevormundung anhand skandinavischer Länder.

In der Folge schildert er drei seines Erachtens fehlgeleitete Verflechtungen von Wirtschaft und Staat

1. der Staat beherrscht die Wirtschaft (Asien, Sowjetunion, Dritte Weit);

2. Staat und Wirtschaft verbünden sich miteinander (Mittel- und Westeuropa),

3. die Wirtschaft beherrscht den Staat (USA),

um daran seine Analyse der gegenwärtigen und zukünftigen Krisen (Schwächung der Regierungen, üppige Wahlversprechen, brüchige Staatsfinanzen, erwünschte Unterbeschäftigung u. al sowie seine Perspektiven des friedlichen Übergangs "vom Machtstaat zum Rechtsstaat" anzuschließen. Wie dieser sich vollziehen könnte, schildert der Autor zuletzt im utopischen Szenario des "Minus-Staates", in dem Staatsgelder für Mammutprojekte (Autobahnen, Flugplätze, Raumfahrt usw.) ebenso der Vergangenheit angehören wie die üblichen Parteien kämpfe. Die ”Plus-Staaten", beharrten weiterhin auf dem alten System, müßten jedoch - so das positive Ende - mit der Zeit den Protesten der  Bevölkerung (Steuerboykotte) nachgeben und ebenso in ihre Verschlankung einwilligen. .:.


Manches des hier als "Soziale Dreigliederung" Vorgetragenen (Wirtschaft, Geistesleben und Staat emanzipieren sich voneinander) ist durchaus attraktiv, stellt jedoch hohe Ansprüche an die Menschen und v. a. an die Unternehmen. Die Dynamik des auf Konkurrenz- und Gewinninteresse basierenden Wirtschaftssystem und der auf Konsumsteigerung angelegten Wachstumslogik bleibt dabei ebenso ausgeblendet wie der enorme Einfluß der Kultur- und Medienindustrie auf das Verhalten. Zuzustimmen ist dem Autor jedoch dahingehend, daß Staaten und soziale Institutionen der Transformation bedürfen und im Freiheitszugewinn der Nachknappheitsgesellschaften große (leider weitgehend verschüttete) Emanzipationspotentiale liegen.

H. H.


Carlgren, Frans: Wenn die Staaten unregierbar werden. Gefahren und Chancen. Stuttgart: Urachhaus, 1997.228 S., DM 34,- / öS 265,50/ sFr 31,50