Virtuelle Realität, Wahrnehmung, Ethik der Kommunikation

Ausgabe: 1999 | 3

Die vorliegenden Beiträge gehen auf ein Symposion in Vorbereitung der EXPO 2000 in Hannover zurück und beschäftigen sich mit der Interaktivität zwischen Mensch und Computer. Im wesentlichen geht es um die Frage, wie dieses Verhältnis so gestaltet werden kann, daß darin „Partizipation und Solidarität, individuelle Freiheit und individuelle Verantwortung möglich bleiben“ (S. 8).

Zunächst wird der Status der „virtuellen Realität“ in verschiedenen Facetten diskutiert. Sie wird heute täglich millionenfach in Verwaltungen, Produktionszusammenhängen, in Forschungsumfeldern, im Design, in der Musik und als Einkaufstempel genutzt und ist inzwischen zum prägenden Anteil von Wahrnehmung und Zwischenmenschlichkeit geworden. Nach den hinter den Techniken der „virtuellen Realität“ stehenden Leitbildern sucht Gerhard Wegner, die für ihn bei der Frage nach der Identitätskonstitution im Cyberspace wichtig sind. Es scheinen sich durchaus neue Formen der Verständigung, der Verläßlichkeit, der normativen Orientierungen herauszubilden. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch Stefan Becks Vergleich mit großstädtischen Lebensformen: „Unter der Voraussetzung, daß anonyme und pseudonyme Interaktion zum zentralen Vergesellschaftungsmodus der kommunikativen Globalisierung avancieren, entstehen (...) nicht nur neue Bedingungen sowohl der Verbindlichkeitsproduktion als auch des Identitätsmanagements, sondern es wird in Umrissen auch eine Neufassung des Sozialen erforderlich.“ (S. 258) Indem das Soziale als Hypertext verstanden wird, sind traditionalistische zeit-räumliche Ordnungen geschwächt oder außer Kraft gesetzt. Beck erteilt auch der These, daß der Computer zerstörend auf zwischenmenschliche Kommunikation wirke und soziale Kontakte liquidiere, eine klare Absage. Gegenbeispiel für ihn ist die Entwicklung des französischen Minitel-Systems: hierarchisch konzipiert, wird es durch die Nutzung der Anwender zu einem sternförmigen, dezentralen Kommunikationsnetz transformiert.

Veränderungen der Kommunikation in Richtung einer zunehmenden Symbolisierung und Abstraktion anstelle von Sensualisierung und Direktheit interessieren Peter Weibel, der davon ausgeht, „daß die Mechanismen der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit durch Mechanismen der medialen Konstruktion von Wirklichkeit fortschreitend ersetzt werden“ (S. 118). Nicht zuletzt sei noch der  Beitrag von Zelko Wiener erwähnt, der die Arbeiten der Reihe „VirtWelt“ als Ergebnis einer bildorientierten Auseinandersetzung mit dem Begriff „virtuelle Realität“ präsentiert. Alles in allem ein konstruktiver Beitrag, der insbesondere die Sensibilität und Aufmerksamkeit auf die Medien als weltweit tendenziell antidemokratische Kraft schärft und das Netz als „gesetzlosen“ elektronischen  Raum mit unbeschränkten Freiheiten als Relikt amerikanischen Pioniergeistes offenlegt.

A. A.

Links:

Alle möglichen Welten. Virtuelle Realität, Wahrnehmung, Ethik der Kommunikation. Hrsg. v. Manfred Faßler. München: Fink, 1999. 263 S., DM 48,- / sFr 44,30 / öS 350,-