Karl Polanyi

Ausgabe: 2019 | 4
Karl Polanyi

Karl Polanyi (1886-1964) war Wirtschaftshistoriker, wirkte in Österreich als Redakteur der Zeitschrift „Der Österreichische Volkswirt“, verließ Österreich 1935 und publizierte in den USA schließlich sein einflussreiches Werk „The Great Transformation“. Zurzeit wird Polanyi wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt. 2018 wurde in Wien eine Karl-Polanyi-Gesellschaft gegründet. Der Band „Karl Polanyi. Wiederentdeckung eines Jahrhundertdenkers“ dokumentiert dieses gestiegene Interesse und leistet grundlegende Beiträge zu einem zeitgemäßen Verständnis des Werks und der Person.

Polanyi zeichnet in seinem Hauptwerk die langfristige Entstehung der Marktwirtschaft nach. Vor allem anhand des Beispiels Großbritannien erklärt er, wie Schritt für Schritt Lebensbereiche der Marktlogik unterworfen und immer mehr Aspekte des Lebens als Produkte handelbar ausgestaltet wurden. Wichtig in seiner Beschreibung ist die Erkenntnis, dass jeder Schub in Richtung Ausweitung des Marktes mit Gegenbewegungen verbunden war. Gesellschaftliche Gruppen oder staatliche Institutionen widersetzten sich der Dynamik und erzwangen zumindest zeitweise stabile Kompromisse. Dieses Vorwärtsdrängen des Marktes und die damit ausgelösten Widerstände nannte er eine „Doppelbewegung“.

Als er „The Great Transformation“ in den 40ern fertig stellte, sah er Kommunismus und Faschismus als Ausdruck der Gegenbewegung zur verschärften Deregulierung der 20er-Jahre. „Karl Polanyis Nachdenken über eine gerechte und freie Gesellschaft setzt bei der Vorstellung an, dass – wie er es seinerzeit vermutete – die Menschheit nach den Erfahrungen von Diktatur und Krieg nie wieder den Weg einer radikalen Wirtschaftsliberalisierung gehen würde“, schreiben Brigitte Aulenbacher, Veronika Heimerl und Andreas Novy im vorliegenden Band (S. 15). Somit war Polanyi optimistisch, dass auf der Basis der Industriegesellschaft eine gerechte und freie Gesellschaftsordnung entstehen würde. „Es ging Polanyi also nicht darum, Industriegesellschaften zu dämonisieren, sondern um die Frage, in welcher Weise Gesellschaften in diesem ‚Maschinenzeitalter‘ ohne große Verwerfungen organisiert werden können“, schreiben Andreas Novy und Richard Bärnthaler an anderer Stelle (S. 116).

Drei Wellen der Vermarktlichung

Michael Burawoy versucht in seinem Beitrag mit Polanyis Logik einzuordnen, was in der Zeit nach dessen Tod 1964 passierte. Er spricht von drei Wellen der Vermarktlichung. Die erste datiert er mit Polanyi an das Ende des 18. Jahrhunderts, als neue Armenentschädigungen die Arbeitskraft einfacher handelbar machten. Damit einher gingen unter anderem Gegenbewegungen wie die Entwicklung von Genossenschaften und Gewerkschaften. Die zweite Welle setze nach dem Ende des ersten Weltkriegs ein. Der freie Handel auf der Grundlage des Goldstandards und die Beendigung der Einschränkungen der Kriegswirtschaften stärkten den Marktcharakter des wirtschaftlichen Lebens. Dies habe vor allem in Italien und Deutschland zu Verwerfungen geführt, die Gegenbewegung nahm die Form des Faschismus an.

Die dritte Welle fügt Burawoy hinzu: Sie beginnt für ihn 1973 mit der Energiekrise und hat seiner Meinung nach durch die Regierungen von Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA großen Aufwind erhalten. „Im Laufe der Zeit hat sie sich mit dem Aufstieg der Finanzwirtschaft als eine Ära der Rekommodifizierung des Geldes und der verschärften Kommodifizierung der Natur, das heißt von Luft, Boden und Wasser, erwiesen. Diese dritte Welle der Vermarktlichung führte zum Zusammenbruch des Staatssozialismus und bezog aus ihm neue Energien. In Lateinamerika kam die Strukturanpassung genau zu dem Zeitpunkt, als die Diktaturen fielen, was zu Experimenten in partizipativer Demokratie führte. Während die Wellen der Vermarktlichung in den Kernländern in einem Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderten aufeinander folgten, wurden die Länder der Peripherie in sehr rascher Folge mit ihnen konfrontiert, sodass sie umso explosiver wirkten.“ (S. 32)

Karl Polanyi und Nancy Fraser

Ein sehr spannender Beitrag in dem Sammelband ist der Text von Michael Brie. Er bringt Karl Polanyi und die Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser ins Gespräch – und mischt selber ordentlich mit. Der Ansatz dabei: Wenn wir eine dritte Welle der Vermarktlichung erleben, wie Polanyi sagen könnte, was ist dann heute die Gegenbewegung?

Dabei kommt zuerst Nancy Fraser zu Wort. Sie sieht zwei politische Blöcke, die sich gegenüber der aktuellen Situation kritisch verhalten. Zuerst die Verteidiger der „Gesellschaft“ gegen den Markt, des Gemeinguts, des öffentlichen Zugangs, der Sicherheit. Diese Gruppe war am Herzen der Gegenbewegungen nach den ersten zwei Wellen der Vermarktlichung. Diese Gruppen, dazu gehört freilich die ArbeiterInnenbewegung, sei aber heute nicht stark genug. Die neue, zweite Gruppe, die mit der Gegenwart unzufrieden ist, setzte sich aus Emanzipationsbewegungen zusammen, die nach dem zweiten Weltkrieg entstanden sind. Sie liefen Sturm gegen bürokratische, patriarchale und rassistische Elemente der Gesellschaft. Brie lässt Fraser direkt zu Wort kommen: „Indem sie Zugang und nicht Schutz verlangten, war ihr Hauptziel nicht die Verteidigung der ‚Gesellschaft‘, sondern die Überwindung von Herrschaft.“ Und nicht selten habe der Markt für unterdrückte Gruppen auch befreiende Momente geboten, indem er konventionelle Schranken durchbrach.

Damit ist die Gegenwart gekennzeichnet durch einen dreiseitigen Konflikt: Marktausweitung, Verteidigung der Gesellschaft gegen den Markt, Kampf um Nicht-Diskriminierung beim Zugang (zum Markt).

Brie ergänzt, es gebe eine vierte Bewegung: den Autoritarismus und den rechten Nationalismus. Und er will den Akzent anders legen: „Das eigentliche Polanyi-Moment, so sei behauptet, ist nicht die Gegenbewegung zum Marktradikalismus, sondern die Suche nach einer radikalen Alternative: autoritäre Verteidigung der kapitalistischen Marktgesellschaft oder demokratische Formen der Unterordnung der Wirtschaft unter die Freiheit aller und jedes/jeder Einzelnen.“ (S. 147)

Der Band zeigt, dass sich die Auseinandersetzung mit Polanyi lohnt.