Bernd Stegemann

Die Moralfalle

Ausgabe: 2019 | 4
Die Moralfalle

Bernd Stegemann ist Professor an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und Dramaturg am Berliner Ensemble. Daneben ist er politisch aktiv, zuletzt vor allem an der Seite von Sarah Wagenknecht bei der Etablierung des Netzwerkes „aufstehen“. In „Die Moralfalle“ beschreibt er, wie aus seiner Sicht linke Politik in eine Sackgasse geraten ist.

Im Kern geht es um die Auseinandersetzung zwischen den zwei Bewegungen linker Politik: Der Politik der ökonomisch Schwächeren für Schutz vor den Auswirkungen des Marktes und der Politik von Menschen, die gegen ihre Diskriminierung auf der Grundlage von Aspekten ihrer Identität aufstehen.

Stegemann verwendet ein bekanntes Bild der Kulturwissenschaftlerin Gayatri Spivak, um einen Ausgangspunkt seiner Kritik an der Identitätspolitik zu haben. Im Zentrum Spivaks Überlegungen „steht das Beispiel einer indischen Frau, die sich der Tradition der Witwenverbrennung beugt und ihrem eigenen Tod zustimmt. Die Entscheidung dieser Frau wird als objektive Zwangslage beschrieben. Widersetzt sie sich der Tradition, so wird sie von den englischen Kolonialisten als Verbündete vereinnahmt, folgt sie der Tradition, so bestätigt sie eine frauenfeindliche Gesellschaft. Sie hat nur die Wahl zwischen dem Verrat ihrer eigenen Herkunft oder der Unterordnung unter eine falsche Tradition. Zwischen diesen beiden falschen Optionen ist ihr Handeln eingezwängt und sie findet keine dritte Position, aus der heraus sie diesen Zwang als das Falsche kritisieren könnte. Diese Situation meint Spivak, wenn sie zu der Schlussfolgerung kommt, dass die subalterne Frau nicht sprechen kann. (...) Auf der Grundlage dieser Beschreibung kommt sie dann zu wichtigen Hinweisen, wie mit dem Verstummen umgegangenen werden kann. Der erste besteht darin, dass ein strategischer Essenzialismus helfen kann, die ersten Schritte aus der Sprachlosigkeit zu finden. Mit Essenzialismus sind kollektive Zuordnungen gemeint, die sich als naturhafte Identitäten verstehen.“ (S. 148f.). Spivak wisse genau, dass der Essenzialismus der Feind der gesellschaftlichen Emanzipation ist, wenn sie ihn als Mittel für ebendiese Befreiung vorschlägt, nutze sie ihn strategisch. Man solle quasi willentlich vergessen, dass eine Identität gewählt wurde, um dann aus ihrer naturhaften Wahrheit die Kraft für den Befreiungskampf zu gewinnen. Dies solle Mitglieder der diskriminierten Gruppen stärken und ihre Forderungen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft nachdrücklicher machen.

„Heute ist festzustellen, dass der Essenzialismus immer neue Blüten trieb, aber jedes Bewusstsein dafür, dass es sich dabei um eine strategische Wahl handelt, weitestgehend in Vergessenheit geraten ist. Die überall neu entstehenden Identitätskonstruktionen sind fest davon überzeugt, dass sie nicht kontingent sind. Der neue Essenzialismus gilt dabei für reaktionäre Identitäten, wie zum Beispiel die Nation, ebenso wie für vermeintliche progressive Identitäten, wie zum Beispiel diskriminierte Minderheiten.“ (S. 150) Das führe nun dazu, dass die zersplitternden Identitäten diese Trennung von anderen Gruppen als essenziell denken, die Sprachlosigkeit der Subalternen ist zu einem polyphonen Schreien geworden (vgl. S. 150). Was nicht mehr möglich scheint, ist Solidarität, da es keine Sprache mehr gebe, in der sie vernehmbar artikuliert werden könne.

Stegemann ist der Meinung, dass folgende gesellschaftliche Bewegung stattfand. Er sieht die Diskriminierung von gesellschaftlichen Gruppen. Wie im Bild Spivaks versteht er, dass sich die durch Diskriminierung ausgegrenzten Menschen zusammenschließen und dadurch gegenseitig ermutigen. Durch die Umdeutung der stigmatisierenden Mittel als Gerüst einer Identitätsstiftung stärkt man sich als Gruppe nach innen und außen. Das geschah in etwa so wie in der ArbeiterInnenbewegung. Während die ArbeiterInnenbewegung aber eine neue Gesellschaft der Gleichen propagierte, sieht Stegemann bei der zeitgenössischen Identitätspolitik die Stoßrichtung anders. „Der paradoxe Befehl der Identitätspolitik lautet: Nimm mich in meiner Besonderheit wahr und zeige mir zugleich, dass dieser Unterschied für dich keinen Unterschied macht.“ (S. 94f.) Diese Forderung sei ein Problem. „Jeder der damit in Berührung kommt, wird unfrei in seinem Handeln, denn die Entscheidung, welche der beiden Seiten des Paradoxes gerade gilt, liegt allein bei demjenigen, der sich als Teil einer identitätspolitischen Gruppe definiert. Von hier aus wird bestimmt, ob die Unterscheidungsmarker genannt werden dürfen oder gerade nicht, welche Anerkennung noch fehlt und wer sie in welcher Form zu erbringen hat.“ (S. 95). Man komme in eine sich selbst immunisierende Sprecherposition (vgl. S. 98).

Da Sprechen Handeln sei, wird das Gefühl der Kränkung zur Hauptursache der Beschwerden, und es vollzieht sich ein grundlegender Wandel in der Gesellschaftskritik. Es werde ein Begriff, der die soziale Situation des Menschen aufgrund seiner materiellen Lebensbedingungen beschreibt, durch einen Begriff ersetzt, der ein Innenverhältnis des Ichs ausdrückt (vgl. S. 113). Dies sei eine wirkungsvolle Strategie, führte aber dazu, dass die Gesellschaft immer weiter zersplittere und dass die Konflikte immer härter ausgetragen würden.

Stegemann spricht davon, dass die Rolle des Opfers mehr Vorteile verspreche als der Ausweg aus der Position des Schwachen. (vgl. S. 97) Und Stegemann schreibt, dass es insofern kein Zufall sei, „dass mittlerweile alle rechten und identitären Bewegungen genau dieses paradoxe Konzept von Identität kopieren“ (S. 100). Im Ergebnis lande man bei einer Position, die „das Ziel des Universalismus ablehne, da das Verharren in der Community mehr Privilegien verspreche. So werde in der abschließenden Volte genau die Prämisse abgelehnt, die am Anfang aller Befreiungskämpfe stand.“ (S. 101)

Eine Kritik an der Identitätspolitik, von der sich etliche der Kritisierten nicht angesprochen fühlen dürften.