Abstiegsgesellschaft

Ausgabe: 2016 | 4
Abstiegsgesellschaft

Oliver Nachtwey über die Abstiegsgesellschaft und das Aufbegehren in der regressiven ModerneWir sind in der Abstiegsgesellschaft angelangt. Das sagt Oliver Nachtwey in seinem viel beachteten Buch gleichnamigen Titels. Aus einer Gesellschaft des Aufstiegs und der sozialen Integration sei eine Gesellschaft des Abstiegs, der Prekarität und Polarisierung geworden.

In dem Buch werden die historischen Entwicklungslinien bis hin zur heutigen „Abstiegsgesellschaft“ nachgezeichnet. Begonnen wird mit der Blütezeit der sozialen Moderne in der Nachkriegszeit bis in die 1970er-Jahre. Hohe Wachstumsraten der Wirtschaft ermöglichten Kindern aus Arbeiterfamilien den Aufstieg, Vollbeschäftigung sicherte Teilhabe an der Gesellschaft.

Nach 1973 habe der Niedergang der westlichen Ökonomien begonnen, heute drohe globale wirtschaftliche Stagnation. Damit seien auch die Ressourcen für soziale Integration verloren gegangen. Nachtwey unterscheidet horizontale und vertikale Integration. Während die horizontale Integration zwischen Gruppen unterschiedlicher sexueller Orientierung, den Geschlechtern und in bestimmten Bereichen sogar zwischen Ethnien besser gelinge, gehe es „vertikal“ in Richtung immer größerer Ungleichheit. Allmählich sei diese Abstiegsgesellschaft eingetroffen.

Nachtwey belegt die Veränderung anhand der wichtigsten ökonomischen Daten. Von der Verlangsamung des Wirtschaftswachstums (durchschnittliches Wachstum in den OECD-Staaten 1973 vier, 2010 unter zwei Prozent) über den Rückgang der Bruttoinvestitionsquoten (von 23 Prozent im Jahr 1973 auf 22 Prozent im Jahr 2010) bis zur Stagnation der Nettorealverdienste (2010 in Deutschland bei 95 Prozent des Stands von 1991) werden die wichtigsten Kennzahlen vorgeführt.

Parallel änderten sich die Arbeitsverhältnisse. 1991 hatten noch 79 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmer ein Normalarbeitszeitverhältnis, 2014 waren es 68,3 Prozent. Dies führte auch zu Konflikten zwischen ArbeitnehmerInnenguppen: „In der prekären Vollerwerbsgesellschaft wird die nach wie vor existierende Spaltung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitslosen nun ergänzt durch einen dualisierten Arbeitsmarkt mit zwei interferierenden Welten, einer der geschrumpften Stabilität und einer der ausgeweiteten Prekarität.“ (S. 146f) Moderne Klassenverhältnisse seien dabei komplexer als der einfache Gegensatz Oben/Unten. Vertikale Ungleichheit wird verschränkt mit horizontalen Disparitäten, Frauen und MigrantInnen erleben hier besondere Benachteiligung. (S. 175) Das macht auch klar, warum die Gruppe der prekär Beschäftigen nicht einen sozialen Block bilden. Es gebe eben nicht ein Prekariat, sondern viele Prekariate. Kein Wunder also: „Bislang entstehen prekäre oder proletarische Lagen, die aber keine politische Gemeinschaft erkennen lassen.“ (S. 179) Das ist der Ansatzpunkt, bei dem Nachtwey die Erfahrungen des Aufbegehrens gegen die Abstiegsgesellschaft dekliniert. Das Aufbegehren könne aber auch regressiv sein, warnt er im Hinblick auf neue autoritäre Strömungen.

Bei Amazon kaufenNachtwey, Oliver: Die Abstiegsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp, 2016. 264 S., € 18 [D], 18,50 [A], ISBN 978-3-518-12682-0