Wir täuschen uns

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Wir täuschen uns

natur_des_geistesIn Michael Pauens neuem Buch geht es laut Titel um „Die Natur des Geistes”. Nach der Lektüre ist man leider nicht in der Lage, die Frage zu beantworten, was denn nun die Natur des Geistes sei. Aber dafür hat man gute Argumente bei der Hand, um zu erklären, dass „extrospektive“ Erkenntnis nicht prinzipiell schlechter gestellt sei als die Introspektion. Das klingt nun weniger dramatisch. Aber tatsächlich würde mit dieser Erkenntnis ein Problem gelöst werden, das im Weg stand, dem Verständnis unseres „Geistes“ näherzukommen. Versuchen wir uns Pauens Argument vorzustellen: Beginnen wir damit, dass einer Person Schmerz zugefügt wird. Wie dieser Schmerz empfunden wird, sein subjektiver Charakter, entziehe sich grundsätzlich jeder objektiven wissenschaftlichen Erklärung. Wenn aber keine objektive Erklärung möglich sei, dann bedeute dies, dass eine naturalistische Erklärung des Geistes ebenfalls zum Scheitern verurteilt sei. Soweit das dominierende Argument in der Bewusstseinsforschung: „Entweder man hält an den Grenzen einer auf objektives, methodisch gesichertes Wissen verpflichteten Forschung fest, dann muss man auf eine Erklärung subjektiver Erfahrungen verzichten. Oder man besteht auf der Erklärung dieser Erfahrungen, dann muss man die Grenzen der üblichen wissenschaftlichen Standards überschreiten“, fasst Pauen das hegemoniale Argument zusammen. (S. 19) Diese Blockade für den wissenschaftlichen Fortschritt will Pauen beheben.

Sein Versuch beginnt mit der Trennung von bewusster Erfahrung und der Erkenntnis dieser Erfahrung. Nur die bewusste Erfahrung sei subjektiv, die Erkenntnis darüber muss aber der Betroffene gar nicht besser hinkriegen als Außenstehende. Ich empfinde meinen Schmerz genauer als die Außenstehenden. Es kann aber sein, dass Außenstehende ihn besser erklären als ich dies „introspektiv“ tue. Dieses Wissen der Außenstehenden nennt Pauen „extrospektives“ Wissen. Die verhandelte These: „Andere können also prinzipiell genauso gut, im Einzelfall sogar besser über meine Schmerzen Bescheid wissen als ich selbst.“ (S. 22)

Pauen muss freilich zur Beweisführung schreiten. Das macht er in einem ersten Schritt, in dem er die Ideengeschichte des „Bewusstseins“ referiert. Dieses Kapitel ist ganz unabhängig vom Argument des Buches mit Gewinn zu lesen. Entscheidend dabei ist aber der Hinweis, dass sich unsere Ideen von Seele und Bewusstsein immer wieder wandelten.

Pauen lässt nun die Introspektion gegen die Extrospektion im Feld der Experimente antreten. Anders gesagt: Er will sehen, was wir durch Experimente erfahren, wie gut unsere eigene Erkenntnis der Erfahrung selbst entspricht. Der Autor kommt hier zu einem sehr kritischen Urteil. Die Introspektion sei schon mal sehr irrtumsanfällig. Nur ein Beispiel, das im Buch angeführt wird: Stimuliert man den Arm einer Versuchsperson innerhalb einer knappen Sekunde an mindestens zwei Stellen (z. B. fünf Impulse beim Handgelenk und fünf Impulse beim Ellenbogen), wird die Person berichten, dass sie spürte, wie der Impuls schrittweise von einem Ort zum anderen wanderte. Die Gründe für diesen Fehler liegen wahrscheinlich in der Evolution, man nahm wohl Jahrtausende lang an, so etwas muss eine Berührung durch ein Tier sein. Das Experiment heißt unter Forschern „Kaninchen auf der Haut“, was jetzt doch nach dem falschen Tier klingt, das unserem Hirn diese Interpretation nahelegt. (S. 226f.)

Besonders nett ist die Geschichte der Farben in den Träumen der Menschheit. Bis zur Erfindung des Fernsehens träumte man in Farbe, so die Berichte, die uns vorliegen. Dann träumte man in Schwarz-Weiß bis das Fernsehen in Farbe sendete. Seit damals sind wir überzeugt, wieder in Farbe zu träumen. Bedeutet: Der eigene Bericht über eigenes Erleben hängt von externen Faktoren ab. (S. 238f.)

Was sollen die Beispiele über Kaninchen undTräumen? Sie alle sollen uns eine gehörige Portion Skepsis gegenüber unserer Fähigkeit, bewusste Erfahrung selbst richtig zu erkennen, beibringen. Aber können wir ernsthaft von außen, extrospektiv, gegebenenfalls richtiger sagen, was der andere erfahren hat? Hier wird uns in diesem Buch das „Quality-Space-Modell“ vorgestellt. Vereinfacht gesagt, geht es um das Unterscheiden von Farben. Versuchs-personen sehen Farben, die sich minimal unterscheiden, dann immer stärker. Sie werden gefragt, ob die Farben unterschiedlich sind. Ab einer bestimmten Stärke des Unterschieds (einer Unterschiedsschwelle) wird dieser erst wahrgenommen. Warum reden wir darüber? Um das zu verstehen, müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass es Pauen um das Verhältnis von bewusster Erfahrung und Erkenntnis über diese Erfahrung geht. In diesem Experiment sollten bewusste Erfahrung und Erkenntnis über die Erfahrung übereinstimmen. Sonst sehe ich zwei verschiedene Farben und sage, sie seien gleich; oder ich unterscheide sie und kann aber keinen Unterschied erkennen. Das bedeutet, ich kann vom Zuhören, wie jemand anderer sein Farbempfinden beschreibt, auf seine Farberfahrung rückschließen. Auf sich allein gestellt, ohne das wissenschaftliche Verfahren, wäre die Klassifizierung von Farben wesentlich ungenauer und widersprüchlicher. (S. 218)

Warum kümmert uns das? Weil, wenn dieses Argument weiter verfolgt und bestätigt wird, sich eine Tür zur Seele öffnet. Das ist übertrieben: Aber, tatsächlich wären dann der wissenschaftlichen Erforschung der subjektiven Erfahrung neue Möglichkeiten eröffnet. Und dies könnte ein neues Denken ermöglichen, wie es so oft bei der menschlichen Auseinandersetzung mit Seele, Geist und Bewusstsein der Fall war.

Aber wollen wir das? Wollen wir, dass gesellschaftliche Organisationen besser wissen können als ich selbst, was ich erlebe? Ist diese Relativierung des Ich nicht ein gefährliches Einfalltor für die Korrektur des Wissens über mich selbst durch andere? Wenn ich das akzeptiere, wem kann ich vertrauen, dass er mich zurecht korrigiert, in einer Welt der Interessen? Freiheit inkludiert das Recht auf Irrtum, es inkludiert das Recht auf „falsches Bewusstsein“. Aber was immer man auch an Sorgen mit dem Vordringen der Wissenschaft in das eigene Denken verbindet: Gerade der geschichtliche Aufriss von Pauen legt nahe, dass die Abwehr des Wissens über Geist, Seele oder Bewusstsein historisch uns selten freier von außenstehenden Kräften gemacht hätte.

Bei Amazon kaufenPauen, Michael: Die Natur des Geistes. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2016. 317 S., € 24,99 [D], 25,70 [A] ISBN 978-3-10-002408-4