Vom Milieu zum Parteienstaat

Ausgabe: 2010 | 3

Doch zurück zu Franz Walter. Sein Buch handelt von den ursprünglich tragenden sozialmoralischen Lagern der deutschen Industriegesellschaft, und es porträtiert einige ihrer bedeutenden Repräsentanten (von Karl Marx über Rudolf Scharping bis Oskar Lafontaine), die den politischen Milieus Gesicht und Prägung gegeben haben. Die spätere Erosion der Volksparteien führt Walter auf das Ende der Weltanschauungen und ihrer Subkulturen zurück. Sigmar Gabriel („Links neu denken“, 2008), der im Gegensatz zum Autor noch im politischen Alltag aktiv ist, sieht diese Entwicklung u. a. in der massiv vorangeschrittenen sozialen Polarisierung begründet. Die Armut habe sich ausgeweitet, die Reallöhne im unteren Viertel seien markant zurück gegangen, die Spaltung der Gesellschaft habe nachdrücklich zugenommen (vgl. S. 117f.) und das alles geschah (bedauerlicher Weise) in einer Ära sozialdemokratischer Regierungspolitik. Nicht verwunderlich also, dass die SPD als einstmals große Volkspartei seit 1990 mehr als 400.000 Mitglieder verloren hat.

 

Der Politikwissenschaftler fragt in der vorliegenden Analyse, was aus den alten Milieus wurde und warum sie ihre frühere Binde- und Prägekraft verloren haben. Weder Bismarck noch Hitler oder Honecker schafften es, Milieus in die Knie zu zwingen, „der bundesdeutschen Demokratie- und Marktgesellschaft aber wird das mühelos gelingen“ (S. 160). Die neue Wissensgesellschaft verlangt, so der Autor, den beweglichen Einzelnen, kreative Kleingruppen und/oder elastische Netzwerke. Dafür aber würden, so eine zentrale These, die sozialen und politischen Organisationen der Industriegesellschaft nicht mehr benötigt. Walter hält es allerdings für möglich, „dass man die Stabilitätspolster und die Loyalitätsreserven politisch-kulturell sozialisierender und mobilisierender Milieus noch vermissen wird“ (S. 160).

 

Irrwege des Parteienstaats

 

Eingangs sprachen wir von der vielstrapazierten Parteienverdrossenheit, die, so Walter, „zur Grundmelodie der politischen Kultur“ Deutschlands gehört. (S. 229) Gleichzeitig kritisiert er das Fehlen von Alternativen und beklagt in diesem Zusammenhang, dass dabei nicht mehr als die Schlagworte „Zivilgesellschaft“, „Bürgerteilhabe“ oder „direkte Demokratie“ zu vernehmen seien (vgl. S. 230). Ein Kennzeichen der Moderne sei die Zunahme von Komplexität und mit ihr vor allem in Wahlkampfzeiten der Bedarf an „Beratung“, diagnostiziert der Autor: „Parteien wollen Ratschlag für Kampagnen, für Taktiken und Strategien des Machterhalts und Machterwerbs.“ (S. 232) Dazu holen sie sich weniger die Wissenschaft als vielmehr kommerzielle Berater (Kommunikationsexperten, Werbefachleute, Kampagnenspezialisten, Plakatdesigner und Fotografen). Wissenschaftliche Politikberatung tut sich in diesem Umfeld sichtlich schwer, v. a. im Umgang mit den Medien. „Auch und gerade Medien verfahren selektiv mit Expertenwissen, verwenden vor allem die rasch zu dramatisierenden Seiten der Forschung, wechseln dann noch schneller das Thema als die Politik.“ (S. 239) A. A.

 

Walter, Franz: Vom Milieu zum Parteienstaat. Wiesbaden, VS Verl. Für Sozialwissenschaften, 2010. 254 S., € 24,95 [D], 25,70 [A], sFr 42,40

 

ISBN 978-3531172804