Telematik als elektronischer Weg aus dem Stau?

Ausgabe: 1995 | 3

Die wissenschaftliche Studie, die das Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung im Auftrag der Deutschen Telepost Consulting (Detecon) im Rahmen des BERKOM-Programmes der Deutschen Bundespost TELEKOM 1992-93 durchgeführt hat, skizziert besorgniserregende technologische Trends und mögliche Auswege durch Informations- und Kommunikations(luK)-Techniken. Rolf Kreibich beschreibt einleitend die katastrophalen ökologischen und sozialen Folgen des Motorisierten Individualverkehrs (MIV) in seiner globalen Dimension. Ein Trend, der sich auch durch die Organisation des weltweiten Handels in der vorherrschenden Politik der EU, vor allem aber im GATT und der geplanten WTO (World Trade Organization) niederschlägt.

Bringen luK-Technologien, die die Transportströme von Waren und Menschen elektronisch steuern bzw. sie auf effizientere Systeme verlagern, die nötige Trendwende oder nur eine kurze Verschnaufpause? Gewiß helfen individuelle Verkehrsleitsysteme Zeit und Energie zu sparen, und ein “road-pricing" verrechnet präziser die effektiven Kosten des MIV. Der positive Effekt könnte jedoch durch die ungemindert ansteigende Motorisierung bald aufgesogen werden.

Werden “datenbigwavs". die zunehmend den Arbeitsplatz und den Supermarkt in die "eigenen vier Wände" verlagern, den "öffentlichen Stau" durch einen in der “privatsphäre" ersetzen? Ihre Bewältigung durch Einzelpersonen bzw. Kleinfamilien oder -gruppen müßte - nach Kreibich - schon im Sozialisationsprozeß von Kindern grundgelegt werden, Die präzise Übersicht von Vor- und Nachteilen dieser scheinbar unaufhaltsamen Prozesse trägt entscheidend dazu bei, persönliche und kollektive Entscheidungen zu treffen. Zur Folgeeinschätzung dieser rasant fortschreitenden und komplexen Technologien sind zusätzliche Informationen aus dem - zunehmend unübersichtlicheren Datennetz unersetzlich. Werden Zukunftswerkstätten und Seminare zum Tele-Workshopping mutieren? Eine Telekonferenzschaltung kann positiv bei kurzfristigen Absagen von Referenten und Teilnehmern sein: statt isolierten Kurzauftritten wären mehrmalige Einschaltungen bei Beginn und Ende der Konferenz möglich.

Die Kostenfrage bei Videokonferenzen müßte den Reise- und sonstigen Kosten gegenübergestellt werden. Zu Teleshopping: eine vergleichende Vorinformation inkl. Bewertung durch Konsumentenschutzbüro wäre positiv, World-Wide-Web-Seiten ein Fortschritt zu dicken Versandhauskatalogen. Doch kann der Käufer dabei die Waren mit allen Sinnen erfassen? Wird daraus ein Einkauf in der "Schönen Neuen Welt"? Das Verkehrsleitsystem erspart Partnerkonflikte am Volant inkl. Unfälle. Die Gewöhnung daran bringt jedoch Orientierungsprobleme außerhalb der Leitzonen, zumal ein unverzichtbarer Teil des Verkehrs - der intime! - ausgeblendet wurde. Ist der Gefühlsstau beim Cybersex die adäquate Antwort auf Verkehrsstaus anläßlich traditioneller Rendezvous? Oder ist Cybersex das passende Surrogat nach einem Versetzt-Werden?

M. Rei.

Gaßner, Robert; Keilinghaus, Andreas; Nolte, Roland: Telematik und Verkehr. Elektronische Wege aus dem Stau? Weinheim: Beltz, 1994. 205 S., DM/sFr 39,80/ öS 311,-