Soziale Sicherung: Auf dem Weg zu neuen Grundlagen

Ausgabe: 1987 | 4

Nachdem der kurze Traum immerwährender Prosperität dem Alptraum steigender Arbeitslosigkeit gewichen ist, rückt die Frage nach der sozialen Sicherung zunehmend in den Mittelpunkt der von Experten geführten Diskussion. Begrjffe wie »Zweidrittelgesellschaft«, »garantiertes Grundeinkommen« oder »Maschinensteuer« sorgen indes nicht nur im Kreis der Fachleute für erhitzte Gemüter. Die vielfältigen, teils ökonomischen, teils demographischen Ursachen der Finanzierungskrise und die neuen Herausforderungen für die Sozialpolitik werden im ersten Teil dieses Bandes angesprochen. Übereinstimmend wird dabei die Koppelung der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung an ein (regelmäßig bezogenes) Einkommen kritisiert. Die Zunahme der Langzeitarbeitslosen in der BRD von 106.000 im Jahr 1980 auf gegenwärtig mehr als 600.000, aber auch die Ausweitung von Teilzeit- und Heimarbeit lässt die dem derzeitigen Modell zugrunde gelegte Annahme einer »Normalarbeitszeit« als historisch überholt erscheinen. Weitreichende Alternativen, etwa die Einführung von Sozialscheinen für nicht-vergeldlichte Arbeit (vor allem im Bereich sozialer Dienstleistungen) oder die Forderung nach einer Ressourcen- und Wertschöpfungsabgabe, die in Anbetracht des Beharrungsvermögens politischer Denkmuster gegenwärtig einem »Befreiungsschlag gegen heilige Kühe« (C. Offe) gleichen, werden in zahlreichen Varianten diskutiert. Der zweite Abschnitt - ausschließlich dem Bereich »Frauen und Sozialpolitik« gewidmet ist kennzeichnend für die aktuelle Situation, zeigt er doch, dass die traditionelle Sozialpolitik, »ein Instrument männlicher Herrschaft- (Ute Gerhard), als solches durchschaut ist und nicht mehr widerspruchslos hingenommen wird. Im dritten Schwerpunkt dieses Bandes wird versucht, die oft nur oberflächlich geführte Diskussion zwischen den Protagonisten eines radikalen Wandels und den konservativen Kräften gegenwärtiger Sozialstrukturen vermittelnd zu bereichern: Dem Konzept der -bedarfsorientierten, integrierten Grundsicherung« wird dabei breiter Raum gegeben. Abschließend wird der Zusammenhang zwischen einer effizienten Sozial- und Arbeitsmarktpolitik betont und als unverrückbarer Markstein sozialdemokratischer Auffassung herausgestellt.  Neben - und genauer wohl erst nach der globalen Dimension dieses Themas stellt die Sicherung des sozialen Gleichgewichts innerhalb der hochentwickelten (westlichen) Industrienationen die Herausforderung der Jahrtausendwende dar. Die voranschreitende Spaltung der Gesellschaft in jene, die Arbeit und Einkommen haben und jene, die auf die wohlwollende Unterstützung der ersteren angewiesen sind, stellt die Politik vor eine Aufgabe, deren Ausmaß sich erst in Konturen abzeichnet. Einige Aspekte - bis hin zu dem Vorschlag, den Begriff der lohngebundenen »Arbeit« durch eine vom monetären Sektor getrennte» Beschäftigung« zu ersetzen, deuten auf einen Wandel der Sozialpolitik hin. Und dennoch: Die Sozialdemokratie tut sich schwer, in dieser Frage, die im Grunde ihre ur-eigenste ist, zu neuen Ufern zu gelangen. Es wird nicht ausreichen, zwischen mutmaßlich grünen Illusionen und nachweislich historisch überholten Modellen einen Mittelkurs zu steuern, ohne zugleich liebgewonnene Oberzeugungen preiszugeben. In Anbetracht der schon heute knappen finanziellen öffentlichen Mittel und der demographischen Verschiebungen der kommenden Jahrzehnte ist nicht allein der Staat gefordert, sondern in verstärktem Maße auch der einzelne dazu aufgerufen, - nicht nur - für seine persönliche Zukunft zu sorgen. Darauf hat, mit deutlich kritischen Tönen gegenüber der Bundesregierung, kürzlich Meinhard Miegel, der Leiter des CDU-nahen Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn hingewiesen. (Vgl. -vom Kopf auf die Füße. Die Rentenversicherung ist im Rahmen des alten Systems nicht zu retten. In: DIE ZEIT, Nr. 47 v. 13. 11. 1987, S. 30 f.) Bei aller Differenz der politisch-weltanschaulichen Ausrichtung: Die Front gegen die traditionelle Wirtschafts- und Sozialpolitik wird zunehmend breiter. Ihr gehören heute nicht nur Grüne, kritische Linke, sondern zunehmend auch Liberale und engagierte Christen an. (Für letztere exemplarisch genannt sei der Bensberger Kreis. Vgl.: Die Krise der Erwerbsgesellschaft. Ein Memorandum deutscher Katholiken. Oberursei: Publik Forum, 1987.)

Sozialstaat 2000. Auf dem Weg zu neuen Grundlagen der sozialen Sicherung. Ein Diskussionsband. Hrsg. v. Rolf G. Heinze (u.a.). Bonn: Verl. Neue Gesellschaft, 1987. 282 S. (Forschungsinst. d. Friedrich-Ebert-Stiftung, Reihe: Arbeit; Bd. 20)