Psychogramm einer überforderten Gesellschaft:
Was ist genug, fragt Wolfgang Schmidbauer in seinem neuen Buch „Raubbau an der Seele“. In den archaischen Kulturen des Hungers sei dieser Zustand einfach zu finden gewesen: „Wer satt ist, kann aufhören, nach Essbarem zu suchen. In den Zivilisationen aber dominiert der Wunsch nach Sicherheit und in ihm die Angst. Dieses Bedürfnis ist unersättlich.“ (S. 23) Damit verweist der Psychoanalytiker auf die Dynamiken des Leisten-Müssens und dessen Kehrseite, die Angst vor dem Versagen in der modernen Anspruchs- und Optimierungsgesellschaft. Schon früh würden Kinder dazu angehalten, sich genügend anzustrengen, wenn sie „etwas werden wollen“. Dies setze sich fort im Erwachsenenalter, gefordert seien „ehrgeizige, tüchtige, allseitig funktionierende Individuen“ (S. 25). Doch die menschliche Psyche mache hier nur bedingt mit, so eine zentrale These von Schmidbauer: „Seelische Ressourcen gehorchen den Grenzen der Ökologie: Sie regenerieren sich, wenn wir sie mäßig ausbeuten. Wenn aber die Grenze zum Raubbau überschritten wird, kippt das System, schon minimale Belastungen überfordern es.“ (ebd.) Das Ergebnis kennen wir: Burnout.
Die Analogie zur Überforderung unserer Ökosysteme, dem Überschreiten der planetarischen Grenzen in der kapitalistischen Raubbaugesellschaft, liegt nahe. Schmidbauer spricht daher von der „Ökologie der Depression“ und verweist dabei auf die Ambivalenz unseres Konsumwohlstands. Leistungserwartung werde kombiniert mit Verwöhnung, die Reglementierung gekoppelt mit dem schnellen Genuss in Form von Konsumhäppchen, was mittlerweile auch auf den Medienkonsum zutreffe. Dies macht für den Psychoanalytiker die ökologisch geforderte Begrenzung schwierig und erkläre auch die simplifizierenden „Welterlösungsversprechen“ (S. 228) der neuen Rechten.
Auswege aus dem Optimierungswahn
An vielen Beispielen demonstriert Schmidbauer die Fallen der modernen Leistungsgesellschaft sowie ihren Optimierungswahn. Der stoischen Haltung, dass Probleme und Scheitern eben zum Leben dazu gehörten, sei die permanente Angst vor dem Versagen gewichen. Die Schuld am Scheitern werde dabei nicht mehr in gesellschaftlichen Umständen gesehen, sondern allein dem scheiternden Individuum zugeschrieben. Schmidbauer geht noch einen Schritt weiter, indem er auf die der Konsumgesellschaft korrespondierende Antwort auf psychische Probleme verweist, nämlich die rasant steigende Verschreibung von Psychopharmaka: „Man dringt nicht zur Wurzel des Übels vor und ändert dort etwas, sodass die Regeneration wieder eine Chance hat. Sondern man vermarktet mit hohem Aufwand und komplizierter Rhetorik ein Mittel gegen die Folgen.“ (S. 25)
Wo liegen Auswege? Die Sehnsucht nach vorindustriellen Zeiten sei weltfremd, so der Psychologe und Therapeut, doch gehe es darum, den falschen Versprechen der Konsumgesellschaft zu entkommen. Er sieht es als Aufgabe der Politik an, die „destruktive Verführungskraft von Waren zu regulieren, welche Körper und Psyche der Menschen schädigen“ (S. 229). Zudem müsse menschliche Arbeit neu definiert werden: es brauche wieder mehr manuelle, haptische Tätigkeiten, den Übergang in eine Gesellschaft, in der neben dem Erwerbsberuf auch die anderen Verrichtungen des Alltags wieder geschätzt würden („gerechte Verteilung von Berufs- und Familienarbeit“, S. 237), außerdem schließlich die Abkehr vom permanenten Optimierungszwang bzw. die Fähigkeit, „sich von dem Lebensentwurf eines steten Aufstiegs zu verabschieden“ (ebd.).
In seinem Buch „Helikoptermoral“, das sich dem Thema „öffentliche Erregung“ widmet, plädiert Schmidbauer ebenfalls für Begrenzung, Entschleunigung und Abkehr von zu vielen Prothesengütern. Er problematisiert darin u.a. die zunehmende Neigung in der Wohlstandsgesellschaft, sich über alles Mögliche zu beschweren und Forderungen an „Verantwortliche“ zu stellen. Anstatt die Welt durch noch mehr moralische Regeln und Erregungen komplizierter zu machen, müssten wir sie „wieder übersichtlicher, stabiler, durchschaubarer gestalten“ (S. 144), so eine der Thesen.
Von Hans Holzinger
Schmidbauer, Wolfgang: Raubbau an der Seele. Psychogramm einer überforderten Gesellschaft. München: oekom, 2017. 247 S., € 22,- [D], 22,70 [A] ISBN 978-3-96006-009-3
Schmidbauer, Wolfgang: Helikoptermoral. Hamburg: Murmann, 2017. 207 S., € 20,- [D], 20,60 [A] ; ISBN 978-3-946514-56-5