Judith Butler

Performative Theorie der Versammlung

Ausgabe: 2017 | 4
Performative Theorie der Versammlung

Performativität und Prekarität sind wohl die bekanntesten Begriffe und Theoriebereiche, mit denen Judith Butler in Verbindung gebracht wird. Die US-amerikanische Philosophin und Expertin für Geschlechterstudien wendet diese nun in der deutschen Übersetzung von „Notes Towards a Performative Theory of Assembly“ an, um die vielschichtigen Lagen einer politisch motivierten Versammlung zu verstehen. Sechs Beiträge – dabei handelt es sich um Vorträge oder überarbeitete Vorlesungen, die zwischen 2011 und 2014 gehalten wurden – werden zu einem Gesamtwerk zusammengefasst.

Butler stellt die Frage der Repräsentation, wenn Versammlungen postulieren als ‚das Volk’ zu agieren, und verweist auf eine unausweichliche Grenzziehung, die durch den Versuch einer Festlegung geschieht. Jemanden als ‚das Volk’ zu bezeichnen birgt nun mal nicht nur die Information der Inklusion, sondern eben auch Bedingungen der Exklusion. Es gibt eben immer Individuen, die fehlen, die aufgrund bestimmter Machtmechanismen nicht erscheinen können.

Diese Machtmechanismen werden mit Prekarität und Performativität verknüpft. Butler beschreibt Prekarität als „politisch bedingten Zustand, in dem bestimmte Teile der Bevölkerung unter dem Versagen sozialer und ökonomischer Unterstützungsnetze mehr leiden und anders von Verletzung, Gewalt und Tod betroffen sind als andere.“ (S. 49) Ihre Performativitätstheorie, die auch jenseits der Gender-Studies geläufig ist, beschreibt Geschlecht als performativ, als eine gewisse Art der Inszenierung. Und so, wie sie Geschlechternormen über psychosoziale Fantasien reproduziert sieht, werden auch grundsätzlich Normen des Menschlichen durch variierende Machtmodi festgelegt. „Für diejenigen, die durch die Norm, die sie verkörpern sollen, in den Hintergrund gedrängt oder herabgewürdigt werden, wird der Kampf zu einem verkörperten Kampf um Anerkennung, zum öffentlichen Beharren auf der eigenen Existenz und Geltung.“ (S. 53) Wie nun aber Aufmerksamkeit und Rechte erlangen, wenn man im hegemonialen Diskurs nicht als ‚Subjekt’ erscheint? Durch Handeln, so Butlers Vorschlag. Indem eben die vorenthaltenen Rechte beansprucht werden, wird die Verweigerung enttarnt, ihr wird entgegengewirkt. Butler nennt als Beispiel Hausbesetzer-Bewegungen in Buenos Aires; wohnungslose Menschen bezogen leerstehende Häuser, um auf ein Wohnrecht zu pochen. „Das ist Performativität, wie ich sie verstehe, und es ist ebenso eine Möglichkeit, aus der Prekarität heraus und gegen sie zu agieren.“ (S. 79f.)

Grundsätzlich spricht sich die Autorin für einen solidarischen Kampf gegen Ungerechtigkeit jeglicher Art aus, befürwortet also das Geltend-Machen eines pluralen und performativen Rechts, formuliert aber Bedingungen der Gewaltlosigkeit. Nur dann könnten Versammlungen erfolgreich sein. Zwar nehmen diesbezügliche Ausführungen nur etwa 5 von knapp 300 Seiten ein, das Herauspicken scheint aber ob jüngster Gewalteskalation zum G20-Gipfel in Hamburg passend. „Gewaltfreier Widerstand bedarf eines Körpers, der erscheint, der handelt und der mit seinem Handeln eine Welt begründen will, die anders ist als die, der er begegnet, und das bedeutet, der Gewalt zu begegnen, ohne deren Bedingungen zu reproduzieren“. (S. 242). Versammlungen sind nach Butler wohlgemerkt nie gewaltfrei, sie versteht Gewalt stets als wesentlichen Bestandteil. Weil beispielsweise Polizeieinheiten gegenwärtig sind oder weil gewaltbereite Gruppen intervenieren. Vornehmlich aber, weil die konstitutiven Antagonismen der politischen Versammlungen an sich nie ganz überwunden werden können. Butler spricht von einer Kultivierung ebendieser Antagonismen zu einer gewaltfreien Praxis als dringende Aufgabe. „Ohne die taktische und von Prinzipien geleitete Kultivierung von Aggression zu verkörperten Aktionsmodi lässt sich die Gewaltlosigkeit nicht erreichen. Wir können die Gesten der Gewalt mimen, nicht um damit zu zeigen, was wir beabsichtigen, sondern um die Wut anzudeuten, die wir verspüren und die wir herunterbremsen auf den verkörperten politischen Ausdruck und in ihn umwandeln. Es gibt viele Möglichkeiten, den Körper einzusetzen, ohne jemanden zu schaden, und das ist zweifellos der Weg, den wir gehen sollten.“ (S. 247f.)

Butlers informationsreiche Ausführungen zu öffentlichen Versammlungsformen lassen sich auch ohne Vorkenntnisse ihrer bisherigen Arbeiten lesen. Auf Grundlage ihrer These, dass „gemeinsames Handeln eine verkörperte Form des Infragestellens der inchoativen und mächtigen Dimensionen herrschender Vorstellungen des Politischen sein kann“ (S. 17), spannt sie ein weites Netz an sich bedingender und durchdringender Aspekte. Die ausgewählten Aufsätze besprechen etwa auch die Rolle der Medien, ethische Verpflichtungen eines Beobachters oder Formen der Solidarität: All diese Aspekte sind Anregungen, die zweifellos bei disziplinübergreifender Auseinandersetzung zu fruchtbaren Diskussionen führen können.