„Die Überwindung der Kluft zwischen der Unfassbarkeit der Zukunft und der Notwendigkeit, sich auf das Kommende einzustellen, ist eine der wichtigsten Herausforderungen von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft. Eine Voraussetzung dafür ist der Mut, auch das Unwahrscheinliche zu erwarten.“ Mit diesem, der Einleitung zu einem insgesamt acht Teile umfassenden „Kompendium“ entnommenen ‚Programm’, benennen die AutorInnen – vielleicht nicht ganz freiwillig – den Anspruch und zugleich das Dilemma der Trendforschung. Dort, wo sie auf vermeintlich sicheren Pfaden die Entwicklung der Gegenwart fortschreibt, sich aber nicht auf Widersprüche und alternative Szenarien einlässt, generiert sie (trügerische) Sicherheit; dort aber, wo sie sich zu forsch auf neues Terrain wagt, läuft sie Gefahr, zur Spekulation oder als beliebig abgetan zu werden. In dieser Bandbreite mit wissenschaftlicher Seriosität sich sicher zu behaupten, wird zur doppelten Herausforderung, wo Komplexität extrem, die Zukunft der Weltentwicklung in exakt 70 Thesen zusammengefasst und daraus noch Megatrends destilliert werden sollen.
Zu sieben Themenfeldern (Demographie, Wirtschaft, Gesellschaft, Technologie, Ökologie und Ressourcen, Geschäftsmodelle und Politik) legt ein Autorenteam des von der Bank Sarasin und dem Collegium Helveticum der ETH und der Universität Zürich getragenen Thinktanks W.I.R.E jeweils zehn „Gegenwartstrends der nächsten 5 bis 15 Jahre“ vor (s. a. Kasten).
Ausgehend von einem knapp gefassten Satz über absehbare bzw. erwartete Entwicklungen, wird, komprimiert auf nicht mehr als einer Seite, ein knapper Gegenwartsbefund geboten, dem jeweils drei bis vier absehbare (oder eben auch mutmaßliche)‚Tendenzen’ sowie zwei Grafiken oder Tabellen folgen, die zentrale Aussagen unterstreichen. Das Bändchen zur Demografie thematisiert derart etwa das ‚Altersbeben’ mit zum Teil konventionellen Befunden („Menschen werden länger arbeiten müssen. Voraussetzung sind flexiblere Arbeitsmodelle ...“) oder den ‚Aufstieg einer neuen Mittelklasse’ weltweit („Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg von Indien, China und Brasilien entsteht eine neue globale Mittelschicht, die schon in wenigen Jahren 15% der Weltbevölkerung ausmachen wird. 1,5 Milliarden Menschen werden ein
Einkommen erreichen, das dem Bruttosozialprodukt pro Kopf der USA von 1950 entspricht.“) Während die Schere zwischen Arm und Reich in der westlichen Gesellschaft immer größer wird, ist die Zahl der Menschen, die mit weniger als zwei USD pro Tag leben, seit 1970 von 14% auf 7% gesunken, so ein weiterer Befund. Im Bereich Wirtschaft diagnostizieren die Autoren unter anderem einen Infrastrukturboom, den verstärkten Wechsel von der Makro- zu Mikrofinanzmodellen sowie den Anstieg des Dienstleistungssektors weltweit – und dies alles unter der Annahme weltweit sicheren Cashflows: „Noch nie zuvor gab es auf der Welt so viel Geld wie heute, nie wurden mehr Finanzmittel von Land zu Land verschoben und nie war es einfacher, für hohe Transaktionen an Kredite zu gelangen. Die wachsende Verfügbarkeit von Kapital in Entwicklungsländern stabilisiert die Weltwirtschaft, doch an manchen armen Ländern fließt der Geldstrom vorbei.“ Wie schwierig es ist, gesicherte Aussagen selbst über die nahe Zukunft zu machen, verdeutlichen Sätze wie diese. Dass das Bemühen um tragfähige Vorhersagen dennoch sinnvoll und leistbar ist, legt der Großteil der weiteren Befunde allerdings nahe.
Zusammengefasst werden die 70 Thesen zu zehn „Megatrends und ihren Gegenpolen“. ‚Knappheit vs. Überfluss’ wird so zu ‚Luxus Grundversorgung’, die eher willkürlich erscheinende Kombination von ‚Nano’ und ‚Astro’ wird zur These ‚Gemeinschaft im Mittelpunkt’ verschmolzen, während sich die Dialektik von Vernunft und Gefühl wie selbstverständlich zu ‚emotionaler Rationalität’ verbindet.
Assoziationen wie diese stellen es dem Leser/der Leserin anheim, sich in diesem Kosmos von Wahrscheinlichem und Möglichem selbst zu orientieren und entsprechende Schlüsse zu ziehen. Die Vielfalt der hier versammelten Trends ist in hohem Maße subjektiv, bietet aber eine ansprechende Basis für mentale Exkursionen in die Welt von morgen. So ist wohl auch der Titel dieses Kompendiums zu verstehen: „Mind the Future“ verspricht in erster Linie nicht gesicherte Befunde über das vor uns Liegende, enthält also keine Handlungsanleitung für die Gestaltung der Zukunft, sondern appelliert an einen aufmerksamen und verantwortungsvollen Umgang mit ihr. W. Sp.
Mind the Future. Kompendium für Gegenwartstrends. Stephan Sigrist … (Mitarb.). Hrsg. v. W.I.R.E. Zürich: Verl. Neue Zürcher Zeitung, 2008. 216 S., 150 Graf., € 32,- [D], 33,- [A], sFr 56,-
ISBN 978-3-03823-476-0