Kreativität

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Kreativität
Wie unser Denken die Welt immer neu erschafft

Eagleman-KreativitätDer Hirnforscher David Eagleman und der Komponist Anthony Brandt beschäftigen sich mit der Frage, wie das Neue entsteht. Die beiden unterschiedlichen Perspektiven der Autoren ermöglichen ein Neuverständnis von Kreativität. Diese entsteht, egal ob in der Wissenschaft oder in der Kunst, durch die gleichen kognitiven Abläufe im Gehirn. Aber wie entstehen Innovationen? Was sind die wesentlichen Eigenschaften kreativen Denkens? Wie kann Kreativität gefördert werden?

Die Orientierung in der Welt ist anstrengend, sie erfordert ständiges In-Bewegung-sein und permanente Hirntätigkeit. Das Gehirn strebt daher nach Effizienz und will Energie möglichst einsparen. Vorhersehbarkeit ist daher wünschenswert und nützlich. Aber neben dem Drang Energie zu sparen, möchte das Gehirn neue Fakten in sein Modell der Welt aufnehmen. Es will lernen und braucht dazu Anreiz und Überraschung. Es geht um ein Gleichgewicht zwischen Vertrautem und Neuem.

Den ganzen Tag ist unser Gehirn damit beschäftigt, Szenarien zu entwickeln und wieder zu verwerfen, um Entscheidungen herbeizuführen. Unsere Hoffnungen sind eine Form der kreativen Spekulation. Dieses Denken in Szenarien ist ein alltäglicher kreativer Prozess, den wir gar nicht als solchen wahrnehmen. Diese geistige Flexibilität, die uns von anderen Lebewesen unterscheidet, bringt das Neue hervor.

Drei grundlegende Strategien der Kreativität

Innovation und Kreativität entstehen nicht aus einem Vakuum. Die Schöpfer neuer Ideen greifen immer Vererbtes auf und verändern es. Eagleman und Brandt sind der Überzeugung, dass es drei grundlegende kognitive Strategien der Kreativität gibt: Biegen, Brechen und Verbinden. Kreativität ist auf das Gedächtnis angewiesen. Diese Mischung aus Verzerrung, Verkürzung und Vermengung bildet die Basis für die neurologische Grundlage unserer Kreativität. Biegen beschreibt die Strategie, das gleiche Motiv auf immer neue Weise darzustellen. Es bedeutet die Veränderung eines bestehenden Vorbilds. Brechen ist das Zerlegen eines Motivs, um aus dessen Bruchstücken etwas Neues zu schaffen. Die dritte Strategie, das Verbinden, bedeutet eine Kombination von zwei oder mehr Dingen auf kreative Weise. Diese kognitiven Strategien sind Werkzeuge, mit denen unser Gehirn Erfahrungen in neuen Output verwandelt. Sie sind die grundlegenden Programme unserer Innovationssoftware. Das Rohmaterial dafür entstammt allen Bereichen unserer Umwelt.

Ist eine neue Idee geboren, muss sie nicht von Erfolg gekrönt sein. Nur ein Bruchteil aller Erfindungen findet Eingang in unsere Gesellschaft und setzt sich durch. Neues muss viele Hürden überwinden: Werte, Politik, Vorurteile, Ort, Zeit, Mode und Geschmack können bei der Durchsetzung Schwierigkeiten bereiten. Immer wieder geht es dabei um die goldene Mitte von Vertrautem und Neuem: Was kann der Öffentlichkeit zugemutet werden?

Kreative Prozesse erfordern Mut

Um Neues entstehen zu lassen, ist eine kreative Einstellung notwendig, und das bedeutet auch den Mut zur Zerstörung von scheinbar Perfektem aufzubringen. Das Brechen mit Traditionen und mit der eigenen Kultur und das sich Abarbeiten an Althergebrachtem ist ein Akt der schöpferischen Zerstörung. Unter ganz vielen Ideen und Erfindungen schaffen es die wenigsten, als Innovation in der Gesellschaft anzukommen, und das bedeutet, dass es notwendig ist, so viele Optionen und Lösungsmöglichkeiten wie möglich zu erdenken. Die Generierung vieler Variationen ist der Eckpfeiler des kreativen Prozesses. Oft ist es notwendig, ein Risiko einzugehen, Fehlschläge hinzunehmen und immer wieder einen Prozess des Scheiterns zu durchlaufen.

Die Zukunft ist nicht vorhersehbar und die meisten Ideen verschwinden wieder. Deswegen ist es notwendig, über bestehende Normen hinauszudenken und sich auf neue Zeiten vorzubereiten. In diesem Sinne operieren kreative Unternehmen an der Grenze des Möglichen und versuchen, zukünftige Entwicklungen vorherzusehen. Innovationen brauchen Zeit. Ihnen gehen unzählige Brainstormings, Entwürfe und Experimente voran, die oft als unproduktiv abgetan werden. Unternehmen müssen agil bleiben und dürfen sich nicht auf ihrem Erfolg ausruhen. Ein kreatives Unternehmen produziert möglichst viele Ideen, siebt die meisten aus und schreckt nicht vor Veränderung zurück.

Förderung der Kreativität an Schulen

Schulen sind gefordert, kreatives Denken zu fördern. Durch freies Spiel und Nachahmung kombinieren Kinder Neues. Schüler sollen dazu angehalten werden, nach alternativen Lösungswegen zu suchen: weg von der Fokussierung auf Ergebnisse und hin spielerischem Erpoben. Am wichtigsten ist dabei die Motivation, der am meisten unterschätzte Aspekt der Bildung. Die kreative Schule stellt sinnvolle Aufgaben und veranstaltet Wettbewerbe, um die Schüler zu motivieren. Faktenwissen allein genügt nicht mehr, Kinder müssten aktiv werden, um Biegen und Brechen zu verbinden.

Durch die Möglichkeit der digitalen Speicherung ergibt sich ein enormes Rohstofflager für Ideen und Innovationen. Das Internet ermöglicht die Entstehung neuer vernetzter Kulturen, Entfernungen und Trennungen sind aufgehoben. „Kreativität“ von Eagleman und Brandt ist durch die vielen Beispiele an Innovationen aus Wissenschaft und Kunst quer durch die Historie sehr anschaulich und die Theorien werden greifbar. Die Strategien des Biegens, Brechens und Verbindens hätten auch auf weniger Seiten Platz gefunden, das große Vergnügen bieten die ausgesuchten Beispiele aus der Kunst- und Technikgeschichte, die die beiden Autoren präsentieren, um ihre Thesen zu untermauern.

Von Esther Nowy

Eagleman, David; Brandt Anthony: Kreativität. Wie unser Denken die Welt immer neu erschafft. München: Siedler, 2018. 288 S., 25,- [D], 25,70 [A]