Thomas Gebauer, Ilija Trojanow

Hilfe? Hilfe!

Ausgabe: 2019 | 3
Hilfe? Hilfe!

Wir alle kennen die Frage: Wie konnte, wie kann so etwas geschehen, wie können einige wenige die Mehrheit dazu bringen, zu schweigen, wegzuschauen, still oder sogar aktiv Komplizin und Komplize zu werden? Seit Johan Galtung bekommen wir das Phänomen der strukturellen Gewalt ein bisschen besser in den Griff und wissen auch, dass wir natürlich etwas gegen sie tun können. Zumindest außerhalb der Komfortzone.

Der Psychologe und langjährige Geschäftsführer der Hilfsorganisation medico international Thomas Gebauer und der Schriftsteller Ilija Trojanow haben ein Buch über das geschrieben, was gewöhnlich unter den Schlagwörtern „Entwicklungshilfe“ oder – euphemistischer ausgedrückt – „Entwicklungszusammenarbeit“ diskutiert wird. Mit Euphemismen räumen die Autoren allerdings von Anfang an auf. Konzepte wie „Philanthrokapitalismus“, „effektiver Altruismus“ oder „Resilienz“ werden demaskiert und die dahinter liegenden Motivationen und verdeckten Wirkungsweisen ans Tageslicht gebracht. Das Buch legt dar, wie Menschenrechte und Solidarität der Logik der Kommodifizierung unterworfen und selbst zur Ware werden. Es wird beschrieben, wie dabei jeder Versuch, ungerechte und unmenschliche Strukturen zu verändern, im Keim erstickt wird, zumal dann, wenn er die bestehende Machtkonstellation in Frage stellt.

Kritisches Hinterfragen von gefeierten Konzepten

Die Autoren scheuen sich dabei nicht, gefeierte Konzepte wie das Microkredit-Wesen oder die Rolle, in die sich viele NGOs drängen haben lassen, kritisch zu hinterfragen. Beim imaginären Gang durch die Fachmesse aidEx 2017 wird klar, wie der normalisierte Zustand der Welt in der Zwischenzeit zum Branchenevent verbogen wurde.

Das Buch lässt sich bei allem offenen Appell an die Ideale der Frankfurter Schule und Überwindung der kapitalistischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse trotzdem nicht in die links-wohlfahrtsstaatliche Ecke stellen. Im Gegenteil: der Staat ist für die Autoren erkennbar erledigt. „Eine solidarische Lebensweise verträgt sich nicht mit Ausbeutung und ökologischer Zerstörung. Ihre Entwicklung gelingt nur außerhalb staatlicher Strukturen“, heißt es an einer Stelle (S. 226), „Emanzipation ist keine ‚Staatsaffäre‘, sondern eine Frage praktischer Selbstorganisation“, an einer anderen (S 229).

Die Autoren vertreten auch keinen anti-individualistischen Kollektivismus, der Institutionen dazu einsetzt, bestehende Ungleichheit einfach durch Umverteilung aufzuheben. „Das Ziel kann nicht die Wiederherstellung bzw. Stärkung eines autoritären Wohlfahrtsstaates sein, der sozialen Beistand an Kontrolle und Disziplinierung knüpft, sondern eine menschenrechtlich verfasste Gesellschaft, in der sich Freiheit als universelles Recht entfalten kann.“ (S. 238) Die im Buch mit dem professionellen Blick für wesentliche Details beschriebenen Beispiele der Selbstermächtigung aus dem globalen Süden holen denn auch immer wieder starke Einzelpersonen vor den Vorhang, Menschen, die ihren Traum von einer besseren Welt und einem menschenwürdigen Leben einem bestenfalls desinteressierten Staatsapparat und übermächtigen Konzerninteressen in geduldiger, langwieriger Arbeit jeden Tag neu abringen. Menschliches Maß, so das Credo der Autoren, hat nichts mit der Durchsetzung eigener Interessen zu tun, sondern mit der Erkenntnis, dass zunehmende Ungleichheit nicht nur die Verlierer, sondern auch die vermeintlichen Gewinner unglücklich macht.

Wenn in diesem Buch von Umverteilung die Rede ist, dann im Kontext menschlicher Solidarität und der Überzeugung, dass sich die Sicherung menschlichen Daseins auf nationaler Ebene allein, abgeschirmt vom Rest der Welt, nicht mehr umsetzen lässt. Und dies unter Hinweis einerseits auf die vielen Steuerschlupflöcher und Milliarden-Subventionen aus Steuergeld, die heute globale Industrien erhalten, und andererseits auf die vielen Formen von Alternativen, die heute bereits existieren und weitgehend unbemerkt funktionieren.

Ein nüchtern erfrischender Aufruf

In einer Zeit, in der sich sogar die turbokapitalistischen Auguren des Davoser WEF in sorgenvolle Ratlosigkeit ergeben, ist das Buch ein nüchtern erfrischender Aufruf, dass es anders geht. Es appelliert an Seh-Gewohnheiten und gegen das Verweilen in der Komfortzone. „Die herrschenden Verhältnisse gelten als gelungen, die Alternativen als un-gelungen, weil sie erst sein werden. Deswegen ist die Klimakatastrophe plausibler als die Umgestaltung unserer Wirtschaft auf wirklich nachhaltige Energiegewinnung und Produktion.“ (S. 224)

Dabei zeichnen die Ausführungen keine naiven Zukunftsbilder, sondern benennen die Probleme auf dem Weg zu einer planetarisch gerechten Sozialordnung ganz klar beim Namen. „Menschenrechte, Solidarität, Regulierung, Gemeingüter, Partizipation, Hilfe – für keinen dieser Begriffe gibt es a priori ein gemeinsames Verständnis, das guatemaltekische Kleinbauern mit pakistanischen Näherinnen oder südafrikanischen Ärzten vereinen würde.“ (S. 235). Dass dieser Dialog gewinnen muss, stellen die Autoren jedoch außer Frage.