Herausforderungen des Sozialstaates

Ausgabe: 1997 | 4

Die sich mit andauernder Arbeitslosigkeit weiter öffnende Schere zwischen Sozialbeiträgen aus Arbeitseinkommen und Sozialausgaben bringt die sozialen Sicherungssysteme wie die öffentlichen Budgets in Finanzierungsschwierigkeiten. die durch demographische Entwicklungen - Stichwort Renten - sowie das offensichtliche Ende der fetten Wachstumsjahre und des Verlustes wirtschaftspolitischer Autonomie der Staaten verschärft werden. Der Autor der vorliegenden Abhandlung bringt es auf den Punkt: "Es geht nicht mehr um die Verteilung von Zuwachsen, sondern um die Umverteilung der Bestände." (S. 192) F.-Xaver Kaufmann. Professor für Sozialpolitik an der Universität Bielefeld. unterbreitet zahlreiche Vorschläge zur Meisterung der Krise. die sich wohltuend von der Tendenz. die Probleme den sozial Schwächsten in die Schuhe zu schieben, abheben, die sich aber auch durch Pragmatismus auszeichnen. Anschaulich beschreibt der Soziologe den Eigenwert von Sozialstaatlichkeit und Wohlfahrt im Sinne von ”Daseinskompetenz" der Bürgerinnen. die auch Bedingung funktionierender Marktwirtschaft sei. Die Vorschläge beziehen sich auf den Arbeitsmarkt sowie insbesondere auf die zukünftige Rentenvorsorge. Angesichts der zunehmenden Produktivität der Wirtschaft bei gleichzeitiger Arbeitsextensivierung schlägt Kaufmann die Umschichtung des Beitragsanteils der Sozialkosten zu Lasten einer stärkeren Finanzierung durch indirekte Steuern vor. Den meist gering qualifizierten Langzeitarbeitslosen könne am besten durch Ausbildungsmaßnahmen sowie durch öffentliche Fördermodelle für den Niedriglohnsektor gehoben werden.  Besonderes Augenmerk legt der Autor auf die demographischen Entwicklungen und die Gefahr von Altersarmut - so werden bei Fortschreibung der bisherigen Trends im Jahr 2030 auf 100 Menschen im Erwerbsalter (20 - 60 Jährige) 71 Menschen mit einem Alter von über 60 Jahren kommen. heute sind es 3S. Die BRD müsse daher nicht nur weiterhin ein Einwanderungsland bleiben. sondern vor allem familienfreundlicher werden. Kaufmann plädiert für eine dreifache Umverteilung. und zwar 1. zwischen den Generationen. 2. zwischen den Geschlechtern und 3. zwischen jenen. "die familiale Verantwortung übernehmen. und denjenigen. die darauf verzichten" (S.171). Erreicht werden könne diese durch eine Umstellung des Rentensystems von der Leistungs- zur Bedarfsorientierung (etwa nach dem dualen Schweizer Modell einer Grund- und Aufbausicherung. in dem Mehrverdienende für Wenigverdienende mitzahlen), Höheres Kindergeld. bessere Kinderbetreuungseinrichtungen sowie Anrechnung der Kindererziehungszeiten auf die Rentenvorsorge sollen der "Prämierung von Kinderlosigkeit" entgegenwirken. Die These, daß die zukünftige Altersvorsorge einer entsprechenden "Familienpolitik" bedürfe, ist kritisch zu hinterfragen. Sie kann auch für eine Ideologie des ”Geberzwangs" und des ”Zurückdrängens der Frauen an den Herd" mißbraucht werden. Grundsätzlich wird es auch zukünftig um die Verteilung der Wertschöpfung gehen. Generell weisen Kaufmanns Vorschläge jedoch in Richtung einer neuen Solidarität der Umverteilung von Lebenschancen. Folgerichtig ist ein Kapitel der kulturellen Herausforderung" Wohlfahrtsstaatlicher Konsens und offene Gesellschaft" gewidmet H. H.

Kaufmann, Franz-Xaver: Herausforderungen des Sozialstaates. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1997. 194 S.