Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert

Ausgabe: 1991 | 2

Der amerikanische Moralphilosoph vertieft hier die These die er im Band "Kritik und Gemeinsinn" (dt. 1990) theoretisch abgehandelt hatte. Die drei Wege von Gesellschaftskritik, die Walzer dort gewissermaßen im luftleeren Raum unterschieden hat, nehmen nun konkrete Gestalt an - in Form von elf Porträts von Intellektuellen dieses Jahrhunderts: Benda, Bourne, Buber, Gramsci, Silone, Orwell, Camus, de Beauvoir, Marcuse, Foucault u. Breytenbach. Seine eigene Position in der Frage nach dem Standort der Intellektuellen heute demonstriert er vor allem an Silone und Orwell.   Sie repräsentieren für ihn den Kritiker, der, verbunden mit der Allgemeinheit, von innen heraus gegen die herrschenden Verhältnisse protestiert, ohne von ihr aufgesogen, zum Konformismus gedrängt zu werden. So wie Kritik nur immanent möglich sei, seien auch die Grundsätze der Kritik dem Bestehenden, Alltäglichen bereits immanent: Maßstab für ethisches Handeln sei keine abstrakte moralische Norm von außen, sondern das eigene Gefühl für Moral, die moralische Welt an dem Ort, an dem man lebt. Mit diesem Plädoyer für eine" Kritik der Verbundenheit" mit dem "Volk" wendet sich Walzer gegen eine elitäre Gesellschaftskritik, die distanziert von der Alltagskultur arbeitet, die Masse zum Objekt gesellschaftsverändernder Ideen degradiert. Die sektiererischen Impulse einer solchen Kritik würden vor allem in einer esoterischen oder hochspezialisierten Sprache deutlich. Prototyp einer solchen hermetischen Kritik, die Walzer als anti-demokratisch betrachtet, ist für ihn die" Kritische Theorie" der Frankfurter Schule; Herbert Marcuse gilt demnach schärfste Polemik. Problematisch erscheint die schroffe Entgegensetzung von Theorie und pragmatisch begründetem Handeln; sie steht in Gefahr, einem anti-intellektualistischen Ressentiment Nahrung zu geben. Zudem fragt sich, ob der Rekurs auf das eigene sittliche Empfinden ausreicht für die Beurteilung so komplexer ethischer Probleme wie etwa der Gentechnologie. Trotz mancher Einwände ist das Buch ein wichtiger Beitrag zur Frage, wie in einer Zeit" Neuer Unübersichtlichkeit" Gesellschaftskritik sinnvoll und effektiv sein kann. Walzer macht Mut sich einzumischen, ohne auf" totale" Bedrohungen totalisierend zu reagieren. Gesellschaftskritik Moral

Walzer Michael: Zweifel und Einmischung. Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert. Frankfurt/M.: S. Fischer, 1991. 352 5, DM 48,- / sFr 40,70 / öS 374,40