Freiwilligenagenturen in Deutschland

Ausgabe: 2012 | 3

In den modernen westlichen Gesellschaften spielen vielfältige Formen freiwilligen bürgerschaftlichen Engagements in vielen Bereichen eine wichtige, teilweise sogar zunehmende Rolle. Um die konkreten Bedarfe in Familien, Vereinen etc. mit den Engagementbereitschaften von Bürgerinnen und Bürgern aus den verschiedenen sozialen Milieus zu verknüpfen, entstanden in Deutschland unterschiedliche Institutionen wie Freiwilligenagenturen, Freiwilligenbörsen, Ehrenamtsbörsen und Freiwilligenzentren mit entsprechenden Träger- und Verbandsstrukturen. Einzelne davon wurden gelegentlich untersucht und Fallbeispiele analysiert, doch eine umfassende und systematische wissenschaftliche Untersuchung lag bislang nicht vor. Nun hat ein 4-köpfiges Forscherteam aus Halle-Wittenberg, Potsdam und Oldenburg eine umfangreiche qualitative Studie hierzu vorgelegt (Selbsthilfekontaktstellen, Seniorenbüros, Mehrgenerationenhäuser etc. werden nicht berücksichtigt). Sie wurden dafür unterstützt vom deutschen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

 

Folgende Fragestellungen sind in dem Forschungsvorhaben verfolgt worden: Wie haben sich Freiwilligenagenturen entwickelt und institutionalisiert? Welches sind die Rahmenbedingungen? Wie sind sie eingebettet und werden sie unterstützt von den Kommunen, und welches sind ihre Wirkungspotenziale? (S. 22)

 

Zur empirischen Basis der Untersuchung gehörten Positionspapiere und Stellungnahmen, Erfahrungsberichte, bundesweite Engagementberichte, Leitfäden und Handreichungen, Fachartikel, Expertisen sowie Ergebnisse empirischer Forschungsprojekte zu dem Themenfeld. Das Forschungsteam bezieht sich für die Evaluation und Einschätzung der vorgefundenen Verhältnisse auf das ihrer Ansicht nach bewährte CIPP-Modell von Daniel Stufflebeam (1984), das aus den vier Elementen zur Evaluation von Kontext, Input, Prozess und Produkt besteht.

 

In dem Forschungsvorhaben wurden drei Teilstudien durchgeführt: eine bundesweit repräsentative, standardisierte Fragebogenerhebung, lokale qualitative Fallstudien in vier exemplarisch ausgewählten Kommunen sowie eine bundesweite Befragung von 15 thematisch einschlägigen ExpertInnen. Die Studie ist dementsprechend gegliedert, und es erhärtete sich die Erwartung, dass Freiwilligenagenturen sich zum „Prototyp intermediärer Organisationen in Engagementangelegenheiten“ entwickelt haben (S. 11). Sie agieren nicht mehr nur reaktiv, sondern vielmehr proaktiv: Nach ihrem eigenen Selbstverständnis verstehen sich die Freiwilligenagenturen inzwischen als „lokale Entwicklungsagenturen, die bürgerschaftliches Engagement auf lokaler Ebene mittels Information, Beratung, Vermittlung und Qualifizierung sowie Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit fördern wollen. In den vergangenen Jahren war dieser an sich schon hohe Selbstanspruch einem wachsenden Erwartungsdruck auf Seiten von Politik und Verwaltung sowie auch von Kooperationspartnern ausgesetzt.“ (S. 196)

 

 

 

Bestandsaufnahme

 

Nach Angaben in Veröffentlichungen des o. g. Ministeriums existierten 2001 in Deutschland etwa 190 Freiwilligenagenturen und 2009 bereits 360 (S. 197). Das Feld der Freiwilligenagenturen zeichnet sich – wenig überraschend – durch eine immense Heterogenität aus, und in ihren Entwicklungen kommt es weniger zu Kontinuität als vielmehr zu konjunkturellen Wellen mit hoher Dynamik. Zu den zahlreichen Befunden der Studie gehört beispielsweise, dass die in den Fallstudien untersuchten Freiwilligenagenturen nicht so sehr als formalisierte Organisationen anzusehen sind, sondern eher als von Personen geprägte Projekte: „So erweisen sich Leitungspersonal und auch die Mitarbeiter in ihrem Selbstverständnis und ihrer Aufgabenwahrnehmung als entscheidend für die Institutionalisierung von Freiwilligenagenturen. In diesem Sinne sind Freiwilligenagenturen in erster Linie nicht Organisationen, sondern Personifizierungen von Organisationen.“ (S. 202) Zudem zeigt sich, dass das dort arbeitende Personal über hohe Motivation und hohe Frustrationstoleranz verfügt.

 

Entscheidend für die erfolgreiche Entwicklung von Freiwilligenagenturen ist zudem ihre lokale Einbettung und kommunale Unterstützung, also die Einsicht und der Wille der politischen Entscheidungsträger in den Kommunen, dass für sie und ihre Stadt oder Gemeinde bürgerschaftliches Engagement überhaupt ein relevantes Thema ist.

 

In dem abschließenden Kapitel mit der Überschrift „Flächendeckende Präsenz und prekäre Institutionalisierung: Freiwilligenagenturen in Deutschland“ (S. 194f.) werden die wesentlichen Befunde der Untersuchung zusammengefasst und sozialwissenschaftlich reflektiert. Hierfür werden die zu Beginn des Buches skizzierten sozialwissenschaftlichen und fachpolitischen Diskussionsstränge noch einmal aufgenommen und im Lichte der Projektergebnisse erörtert. Thematisiert wird das recht große quantitative Wachstum und die flächendeckende Verbreitung von Freiwilligenagenturen, deren lokale Einbettung und die kommunale Unterstützung, ihre Ressourcenausstattung und öffentliche Förderung; außerdem ihre unterschiedlichen Wirkungspotenziale, und schließlich ihre Profilbildung, Personalisierung und Professionalisierung als latente Herausforderungen sowie weitere Forschungsperspektiven für die Wissenschaften.

 

Zu den auffälligen Resultaten zählt eine prägnante „politische Enthaltsamkeit“ von Freiwilligen-agenturen, die sich durch eine Distanz zu Parteien und Politikern verdeutlicht (S. 199). Hier weisen die Forscher darauf hin, dass dies eine wichtige Herausforderung für die Akteure der Freiwilligenagenturen darstelle, vor allem auch angesichts der im Forschungsprojekt empirisch belegten „in der Regel rudimentären Ressourcenausstattung“ (S. 200) und daher lediglich „prekären Institutionalisierung“ der Freiwilligenagenturen.

 

 

 

Wirkungszusammenhänge

 

Hinsichtlich der Wirkung der Freiwilligenagenturen weisen die Autoren darauf hin, dass hierzu nicht nur Vermittlungszahlen und Ergebnisse in der Förderung gehören, sondernd dass es vielmehr um vielfältige Wirkungspotenziale gehen müsse und zwar in mehreren weiteren Feldern: in Information, Beratung und Vermittlung von Bürgern und Organisationen, der Öffentlichkeitsarbeit für bürgerschaftliches Engagement, der Entwicklung neuer Leistungen und der Fort- und Weiterbildung (S. 200).

 

Abschließend werden noch Hinweise für weitergehende Forschung gegeben, die beispielsweise folgende Fragen aufgreifen sollte: Welche konkreten Bedarfe liegen der Tätigkeit von Freiwilligenagenturen überhaupt zugrunde? Welche Wirkungen erzielen sie insgesamt und von welchen Faktoren werden diese beeinflusst? Und welche Bedeutung und Funktion spielen sie in kommunalen Gemengelagen? (S. 203)

 

Mit dieser sehr verständlich verfassten Studie liegt eine fundierte Einschätzung über die wohl wichtigste intermediäre Institution zur Unterstützung freiwilligen Engagements in Deutschland vor. Damit wird die Möglichkeit geschaffen, die Stärkung der derzeitigen unzureichenden Demokratie weiter voranzutreiben. E. G.

 

 

 

Freiwilligenagenturen in Deutschland. Potenziale und Herausforderungen einer vielversprechenden intermediären Organisation. Hrsg. v. Karsten Speck … Wiesbaden, VS Verlag (u. a.), 2012. 212 S., € 29,95 ,[D], 30,90 [A], sFr 42,-

 

ISBN 978-3-531-18584-2