Der geplatzte Traum vom Internet
Die Frage ist, wann er kippte, der Traum vom Internet als offenem, allen zugänglichen Informationsraum frei von Verwertungsinteressen. Oder konkreter vielleicht: Wann die Vision, „die Informationen der Welt zu organisieren und für alle zu jeder Zeit zugänglich und nutzbar zu machen“, umschlug in eine neue Form der Ausbeutung. Das Zitat eben ist die Mission von Google – und Google ist das Unternehmen, dem eine entscheidende Rolle für eine beispiellose Transformation des Kapitalismus zukommt: der zum Überwachungskapitalismus. Das ist die These der emeritierten Havard-Ökonomin Shoshana Zuboff.
Überwachungskapitalismus nennt sie eine „neue Marktform, die menschliche Erfahrung als kostenlosen Rohstoff für ihre versteckten, kommerziellen Operationen der Extraktion, Vorhersage und des Verkaufs reklamiert“ (S. 7). Ziel ihres aktuellen Buches ist es, die Gesetzmäßigkeiten dieses Überwachungskapitalismus zu durchschauen. Es versteht sich als „erster Versuch, eine Terra Incognita zu vermessen“ (S. 33). In der Tat geht Zuboffs Ansatz weit über das hinaus, was unter den Stichworten „zweiseitige Märkte“ oder „Plattformökonomie“ an theoretischen Deutungen der neuen Verwertungslogik in digitalen Ökonomien vorgelegt worden ist. Ihr Buch verbindet ein tiefes Verständnis der datenbasierten Geschäftsmodelle mit einem Gespür für die Grenzüberschreitungen, die mit deren Einführung und Durchsetzung verbunden sind. Einem Gespür für das Beispiellose dieses neuen Modells.
Suchmaschinen als Geschäftsmodell
Um die Eingangsfrage zu beantworten: es war bereits im Jahr 2000, als Google auf dem Höhepunkt der Dot.com-Krise unter dem Druck der Investoren eine Änderung seines Geschäftsmodells umsetzte. Genauer: aus der Suchmaschine überhaupt erst ein Geschäftsmodell entwickelte. Detailliert zeichnet Zuboff nach, wie sich das Unternehmen nach und nach transformierte. Es lohnt, diese Rekonstruktion zumindest in Stichpunkten nachzuzeichnen:
Am Anfang stand die Erkenntnis, dass die „Kielwelle von Kollateraldaten“ (S. 90), die die Nutzer mit ihren Suchanfragen erzeugten, wertvolle Informationen über die Nutzer selbst, ihre Gedanken, Gefühle und Interessen enthielt, die sich nutzen ließen, um die Suchergebnisse fortlaufend zu verbessern. Dies geschah zunächst auf Gegenseitigkeit: Nutzerdaten lieferten Wert ohne Aufwand und Kosten, und das kam den Nutzern wiederum zugute, indem das Unternehmen die Verbesserungen des Dienstes kostenlos zur Verfügung stellte. Zunächst wurden diese „Verhaltensnebenprodukte“, wie sie Zuboff nennt, auch „ohne jede Methode gespeichert und operativ ignoriert“.
Doch am Beginn des neuen Jahrhunderts erkannte Google den wahren Wert dieser Daten, annullierte das Gegenseitigkeitsprinzip und fand sein Geschäftsmodell: aus diesen Verhaltensdaten mittels fortgeschrittener Verarbeitungsmethoden Aussagen über das künftige Verhalten der Nutzer zu gewinnen. „Maschinenintelligenz verarbeitet Verhaltensüberschuss zu Vorhersageprodukten, die prognostizieren sollen, was wir jetzt, bald und irgendwann fühlen, denken und tun.“ (S. 119)
Handel mit Vorhersageprodukten
Gehandelt werden diese Vorhersageprodukte „auf einer neuen Art von Marktplatz für Verhaltensvorhersagen“, den Zuboff in ökonomischer Terminologie als „Verhaltensterminkontraktmarkt“ bezeichnet (S. 22). Die erste Generation von Vorhersageprodukten ermöglichte die zielgerichtete Online-Werbung. Google blieb aber nicht dabei stehen, bloß Kollateraldaten zu nutzen, die als Nebenprodukt der Suchanfragen anfielen, sondern ging zunehmend dazu über, mittels neuer Dienste eigens und zusätzlich Daten zu schöpfen – in der Privatsphäre der NutzerInnen und ohne deren Wissen und Einverständnis.
Google war der Vorreiter, aber andere Unternehmen folgten: Facebook, Microsoft, vermutlich auch Amazon. Gemeinsam ist ihnen das Wertschöpfungsmodell: „Intimität wird Schicht um Schicht erfasst und in einer Sturzflut von Datenpunkten den algorithmischen Fließbändern zugeführt, die daraus Gewissheit fabrizieren“ (S. 233), schreibt Zuboff. Das Ziel des Unterfangens: „Verhalten zu produzieren, das zuverlässig und definitiv zu erwünschten kommerziellen Ergebnissen führt“ (S. 235). Das meint Gewissheit. Und das ist dann der letzte verwertungslogische Schritt: von der Vorhersage zur Steuerung von Verhalten zu kommen.
Die Autorin nennt dies „instrumentäre Macht“: „Instrumentäre Macht kennt und formt menschliches Verhalten im Sinne der Ziele anderer.“ (S. 23) Diese neue Form von Macht ist verkörpert im „Big Other“, dem großen Anderen: eine wahrnehmungsfähige, rechnergestützte und vernetzte Macht, „die das menschliche Verhalten rendert, überwacht, berechnet und modifiziert“ (S. 437). Das wäre eine neue kollektive Ordnung, die Demokratie und Menschenrechte aushebelt, die soziale Beziehungen durch Maschinen und „Gesellschaft durch Gewissheit“ (S. 447) ersetzt, warnt Zuboff. Und appelliert: „Seid Sand im Getriebe“ (S. 593).
Von Winfried Kretschmer
Zuboff, Shoshana: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt/M.: Campus Verl., 2018. 727 S., € 29,95 [D], 30,80 [A]