Die Wertschätzung Europas durch seine Bürger lässt bekanntlich zu wünschen übrig. Man wird sehen, wie das Referendum in Großbritannien ausgeht und wie es mit dem Drama Griechenland weitergeht. Offen ist nach wie vor, wie Europa die Flüchtlingskrise bewältigen wird. Von all diesen Unwägbarkeiten einmal abgesehen, ist und bleibt das ursprüngliche Ziel der „Vereinten Staaten von Europa“ wohl unerreichbar, denn die Fliehkräfte innerhalb des Staatenbundes sind überaus mächtig. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler sieht dies nüchtern und trifft da wohl den Kern des Themas, wenn er darauf hinweist, dass sich die Suche nach einer spezifischen europäischen Identität erledigt hat. Gleichzeitig meint er aber, dass nur eine „Macht in der Mitte“ die zentrifugalen Kräfte Europas einigermaßen in Zaum halten könne. Für den Autor ist Deutschland diese „Macht in der Mitte“. Deshalb fordert er, wie zahlreiche Autoren vor ihm (vgl. PZ 2/2014, S. 20ff.), dass Deutschland wieder mehr Verantwortung in Europa übernehmen müsse.
Die Notwendigkeit für die Entstehung einer solchen Macht sieht Münkler primär in der Osterweiterung der EU und in der mangelnden Konkurrenzfähigkeit der Länder des Südens. Zudem habe die Krise der Währungsunion der Bundesrepublik die oft kritisierte Führungsrolle im europäischen Staatenverbund beschert. Nicht zuletzt sei Deutschland nach dem Rückzug der Amerikaner auch zu einer geopolitischen Macht aufgestiegen.
Im Laufe seiner Analyse mit historischen, geo- und machtpolitischen Bezügen kommen dem Autor dann doch Zweifel, ob Deutschland überhaupt für die Position geeignet ist oder ob man sich nicht besser, wie „in der Vergangenheit leidlich erfolgreich praktiziert“ auf ein „leading from behind“ beschränken sollte (vgl. S. 174). Er gibt auch zu bedenken, dass die Mitte keine Position ist, „in der man sich dauerhaft aufs Konsumieren der günstigen Lage im Raum und der glücklichen Umstände in der Zeit verlegen kann, sondern in der man unausgesetzt in die Aufrechterhaltung dieser Rahmenbedingungen investieren muss“ (S. 9). Zusammenfassend glaubt er jedoch, dass Europa mit Deutschland ein Zentrum gefunden hat, das seine ökonomische, politische und kulturelle Macht besonnen einsetzen werde.
Ob Europa eine hier angedachte Führungsmacht braucht, ist angesichts der budgetären Schieflagen zwischen Nord und Süd, Ost und West sowie der historischen Zusammenhänge durchaus diskussionswürdig. Besser beraten wäre Europa wohl, am Ausbau eines föderalen Staatenbundes zu arbeiten. Alfred Auer
Münkler, Herfried: Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa. Hamburg:ed. Körber-Stiftung, 2015. 203 S., € 18,- [D], 18,50 [A]; ISBN 978-3-98684-165-0