Europa, der Westen und die Sklaverei des Kapitals

Ausgabe: 2018 | 4
Europa, der Westen und die Sklaverei des Kapitals

Europa-der-Westen-und-die-Sklaverei-des-KapitalsPopulisten feiern in Europa Erfolge, Diktaturen breiten sich aus, Demokratien geraten in die Krise. Was ist los mit der Wertegemeinschaft des sogenannten „Westens“? Diese Fragen diskutiert der italienische Historiker Luciano Canfora, Mitglied der „Partito di Comunisti Italiani“ und engagierter Intellektueller der italienischen Linken. Er hat 2005 das äußerst kontrovers aufgenommene Buch „Kurze Geschichte der Demokratie“ (nachzulesen auf www.perlentaucher.de) veröffentlicht. Nunmehr legt er mit diesem Büchlein eine ebenfalls umstrittene Einschätzung der zwei Utopien vor, die sich auf der Weltbühne gegenüberstehen, die der Brüderlichkeit und die des Egoismus. Genauer gesagt unternimmt er einen Ausflug in die Begriffsgeschichte des so genannten „Westens“ und präsentiert neben einigen anderen, darunter auch unbekannten Autoren, zuallererst Voltaires Position dazu anhand zweier Artikel, die vor allem von einem Rezensenten auf „Correspondance Voltaire“ heftigst kritisiert werden. (vgl. www.correspondance-voltaire.de)

Abgesehen von Voltaire-Zitaten fällt die Analyse über den Zustand Europas vernichtend aus. Canfora spricht davon, dass die EU die Utopie des Egoismus in einem Moment der Bewährungsprobe repräsentiert. (vgl. S. 82) Er bezeichnet Europa als monetäre Festung, die der „türkischen Diktatur, Türsteher und Rausschmeißer des Westens, Milliarden Euro“ (S. 83) schenkt. Auf der anderen Seite der Utopie, jener der Brüderlichkeit, sind es die armen Regionen (Griechenland, Italien), die versuchen diese ins Werk zu setzen. Gleichzeitig erinnert Canfora daran, dass der sich selbst als frei, entwickelt und freizügig betrachtende Westen die afghanischen Taliban aufgerüstet hat, um den schon wankenden „realen Sozialismus“ zu besiegen. War also alles vergeblich, so der streitbare Linke, von der „Bergpredigt“ bis zur Einnahme der Bastille, von Luthers Thesen bis zur Befreiung von Saigon? Der Autor behauptet, die Geschichte verlaufe in Spiralen, und wir könnten nicht vorhersehen, welche neuen Mythen und neuen Begriffe sich in Zukunft noch einmal als Interpreten anbieten werden. „Wir können uns nur vorstellen, dass auch sie nicht auf Dauer herrschen werden: angesichts (…) eines schnellen und unaufhörlichen technologischen Wandels, der eilig jede Sicherheit wanken lässt.“ (S. 91) Auch erinnert Canfora an eine Bemerkung Tocquilles, für den die Freiheit ein Ideal mit Unterbrechungen, die Gleichheit dagegen eine Notwendigkeit ist, „die immer da ist wie der Hunger“ (ebd.).

Von Alfred Auer

Canfora, Luciano: Europa, der Westen und die Sklaverei des Kapitals. Köln: PapyRossa-Verl., 2018. 107 S., € 9,90 [D], 10,20 [A] ; ISBN 978-3-89438-663-4